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»Auch hierüber könnte Schidinski geschrieben haben«

Manuel Jorge Marmelo: Eine tausendmal wiederholte Lüge

Ja doch, mir fällt dieser Tage ständig wieder dieser Roman von Manuel Jorge Marmelo ein und die Behauptung: »Auch hierüber könnte Oscar Schidinski geschrieben haben«. Der Ezähler in Eine tausendmal wiederholte Lüge sagt das, als er anstatt ausgedachter Romanhandlungen aus einem erfundenen Buch, mit dem er seine Mitreisenden im Bus unterhält, einmal aus der Tageszeitung vorliest: Über Kopftuchverbote in Spanien, Volksabstimmungen in der Schweiz gegen Minarette, rassistische Ressentiments überall in der Welt und die Deportationen von Roma aus Frankreich. Wie Minderheiten zu Sündenböcken gemacht werden. Zeitungsmeldungen von 2009, doch auf gespenstische Weise zeitlos.

Denn eigentlich geht es in »Eroberte Stadt«, dem Roman, von dem Marmelos Erzähler behauptet, es sei das unbekannte Werk eines ungarisch-jüdischen Schriftstellers aus den 1920er Jahren, um einen erfolglosen Dichter aus Honduras und einen flämischen Seefahrer, der sich vom Geist jenes Schriftstellers verfolgt fühlt, doch immer wieder auch um Entwurzelte, verlorene, elende und doch äußerst hellsichtige Gestalten, gerade so wie es dem Erfinder des Autors und seines Buches gefällt, der nur selten umhin kommt, seine ausgedachten Geschichten und die Geschichte dahinter in Beziehung zur wirklichen Tragik des an Verwerfungen nicht armen 20. Jahrhunderts zu setzen, dessen Auswüchse sich weit in die heutige Zeit fortsetzen.

Der vermeintliche Zeitvertreib des gelangweilten, frühpensionierten Finanzbeamten, der sich wichtig tun, gar berühmt werden möchte, um – ja warum nicht – auch den Frauen zu gefallen, wogt vom unterhaltsamen Vexierspiel mit Realität und Fiktion, der Geschichte um die Geschichte in der Geschichte, regelmäßig in die reflexive Auseinandersetzung mit dem Aktuellen, sei es in der (realen) Episode um die jüdische Leichtathletin Gretel Bergmann, die dem Erzähler im Traum, diesmal aber in Burka, erscheint, sei es in der erdachten Biographie des angeblichen Autors Oscar Schidinski, der auf seiner Flucht vor den Nazis am Ende in Portugal strandet, vielleicht nach Amerika entkommt und unterwegs sogar Fernando Pessoa begegnet (was chronologisch unmöglich ist, wie der Erzähler selbst einräumt), sei es in dessen Überlegungen zu der Moral und Gerechtigkeit, die er stets ebenso regelmäßig in Frage stellt.

Marmelos Roman verhält sich, wie mittlerweile diverse Rezensenten angemerkt haben, wie eine literarische Matrjoschka. In jeder Geschichte steckt eine weitere und noch eine und noch eine, bis der Autor sich dazu entschließt, ein glückliches Ende herbeizuführen, das wiederum ein neuer Anfang ist.

»Seine Figur erinnert an die Märchenerzähler und Marktschreier, die einst ihre Geschichten verkauften und deren Fabulierkunst Menschen von ihrem beschwerlichen Alltag befreite«, schreibt Luísa Costa Hölzl auf der Website des Münchener Kulturvereins Lusofonia, »Und doch ist es ein ernstes Spiel, denn Oscar Schidinski, der vermeintliche Autor des erfundenen Buches Eroberte Stadt, ein aus Ungarn stammender Jude, versammelt in und um sich die schlimmsten Untaten des 20. Jahrhunderts, Erlebnisse von Terror, Flucht und Heimatlosigkeit.«

Im April ist der Roman auf Deutsch erschienen. Seitdem hat sich die Welt noch ein Stück weitergedreht, und immer wieder fällt einem, bei den Fernsehbildern der Geflüchteten auf der auf bizarre Weise fiktionalisierten »Balkanroute«, bei dem Versuch, einzuordnen, wie in Reaktion auf »den Terror« es immer die Falschen erwischt, Oscar Schidinski ein, jener Autor, den es angeblich gar nicht gibt: wenn er einen Protagonisten sagen lässt »du musst dich auf die Seite derer schlagen, die dir am nützlichsten sind, derer, die schlagen und nie auf die derjenigen, die geprügelt werden«, oder sein Erzähler feststellt, »dass alle, die das Böse in sich tragen, vollkommen gleich sind – sie alle beanspruchen, Gott (also das Gute) auf ihrer Seite zu haben.«

Und »Kennen Sie die Geschichte vom Zebramann?« Auch diesen hat Oscar Schidinski beschrieben. Eine tausendmal wiederholte Lüge ist auch ein sehr unterhaltsames Buch, und wie Oscar Schidinskis angebliches Meisterwerk, auf merkwürdige Weise immer wieder und wieder neu aktuell.   

mk, 07.12.2015

Manuel Jorge Marmelo: Eine tausendmal wiederholte Lüge. A1 Verlag 2015

Manuel Jorge Marmelo:
Eine tausendmal wiederholte Lüge

Übersetzt von Michael Kegler
215 Seiten
A1 Verlag, München 2015


rezensiert auch von

Eva Karnofsky auf SWR2
Birgit Friebel auf Pirilamponews
Michael Braun für den Borromäusverein


im Original:
Uma mentira mil vezes repetida
206 Seiten
Quetzal, 2012



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