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Der Swimming-Pool der enttäuschten Hoffnungen

Interview mit Fernando Bonassi

Fernando Bonassi, Schriftsteller, Drehbuchautor, Dramatiker und Filmregisseur wurde 1962 in São Paulo geboren. Nach einem Studium der Filmwissenschaft an der Universität von São Paulo (USP) veröffentlichte er Theaterstücke, Erzählungen und 1994 den Roman Subúrbio. Mit einem Stipendium des DAAD-Künstlerprogramms versehen, reiste er 1998 als Writer in Residence nach Berlin, wo er den Erzählband Passaporte (1999) verfasste. Zwischen 1997 und 2007 schrieb er als Kolumnist für die Folha de São Paulo. 2015 erschien sein neuester Roman Luxúria1, der die Tragödie einer Arbeiterfamilie schildert, die in ihrem Garten einen Swimming-Pool bauen will.

Fernando Bonassi, der Leser Deines Romans stutzt gleich beim Lesen des ersten Satzes: Es ist ein historischer Moment des Wohlergehens in einem Land, das es gewohnt ist, in der Scheiße zu leben. Ernest Hemingway schrieb in seinem posthumen Paris-Buch2: »Du brauchst nur einen einzigen wahren Satz zu schreiben. Schreib den wahrsten Satz, den du kennst«. Du hast offensichtlich Hemingways Rat befolgt, denn der erste Satz fasst den ganzen Roman zusammen.

Ja, der erste Satz erfasst genau das, was in den letzten Jahren in Brasilien passiert ist, und der Roman handelt von der Konstruktion dieses Phantasiegebildes, das uns in letzter Zeit eingelullt und vernebelt hat. Wir lebten in der trügerischen Hoffnung, unsere strukturellen Probleme gelöst zu haben, nur, weil die Ärmsten sich ein kleines Auto kaufen und mit dem Flugzeug fliegen konnten. Natürlich ist es wunderbar, wenn alle Brasilianer über Konsumgüter verfügen und eine Vergnügungsreise machen können. Doch es gelang nicht, diese infantile Phase der Pseudo-Entwicklung zu überwinden. Die soziale Eingliederung durch den Konsum ist lediglich die erste Phase einer ernstzunehmenden sozialen Integration, die auch eine Umverteilung des Einkommens, ein gutes Bildungssystem und einen funktionierenden Gesundheitsdienst umfassen muss, was bei uns nicht der Fall ist. Selbst die Linksregierung, die ich gewählt habe, hat die versprochene Reduktion sozialer Ungleichheiten nicht geschafft. Sie hat genauso regiert wie ihre Vorgänger: die bestehenden sozialen Verhältnisse einer paternalistischen Gesellschaft wurden nicht angetastet, dafür alle ethischen Prinzipien über Bord geworfen, die sie an die Macht gebracht hatten. Jetzt, da Krise und Arbeitslosigkeit zurückgekehrt sind, bleiben nur die Schulden. Auf der Strecke geblieben sind die umfassende Bildung der Jugend und ein besseres Verständnis der Welt, in der wir leben. Luxúria versucht, mit den Mitteln der Kunst diesen Zustand abzubilden.

Der Bau des Swimming-Pools im Garten einer Arbeiterfamilie nimmt einen zentralen Platz in Deinem Roman ein. Dieser Swimming-Pool scheint auf halber Strecke zwischen Herrenhaus und Sklavenhütte3 zu liegen, ein Symbol des sozialen Aufstiegs und gleichzeitig der Tragödie einer Familie, die sich von den Versprechungen der brasilianischen Politik der letzten Jahre hat blenden lassen.

Seit jeher und bis heute steht die brasilianische Gesellschaft bei den ärmsten Schichten der Bevölkerung in der Schuld, auch wenn in den letzten 15-20 Jahren einiges unternommen wurde, um unsere Lebensbedingungen zu verbessern. Doch die soziale Mobilität wurde nicht verbessert. Wir leben in einer zutiefst konservativen Gesellschaft, basierend auf einem unsichtbaren wirtschaftlichen und kulturellen Kastensystem, bei dem Arbeit und Verdienst nicht honoriert werden und wo Schwarze und arme Frauen Bürger dritter Klasse sind, wo die Polizeigewalt mit der stillschweigenden Duldung orientierungsloser Politiker rechnen kann, in einer Gesellschaft schliesslich, bei der die Gewinnmargen hoch und die Löhne tief sind. Kurzum, unsere Elite ist für mich schlicht eine Clique von Selbstmördern!

In seinem Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes4 entwirft Oswald Spengler eine kuriose Theorie zur Demokratisierung der Zeit. Während in der Antike jeder Tag, jede Stunde für sich allein gelebt wurden, monopolisierten die Geistlichen im Mittelalter die Zeit auf den Türmen ihrer Köster und Kirchen. Die Industrialisierung durchbrach dieses Monopol in den Fabriken, und die Zeit erfasst schliesslich alle Individuen mittels der Armbanduhr. Aber in Deinem Roman gehen die Uhren rückwärts und die Zeit scheint von einem Leviathan überwacht zu werden, der seine eigenen Kinder frisst.

Die gestohlene Zeit ist eine der Leitideen im Roman. Die Zeit wird veräußert, gekauft, benützt, verschwendet und dem Hilfsarbeiter von seinem Betriebsleiter ins Gesicht geschleudert: ich stehle dir deine Zeit, damit sie mir zur Verfügung steht. Die Arbeitsbedingungen in armen, dummen und gewalttätigen Ländern wie Brasilien sind verheerend für jemanden, der nichts gelernt hat und wenig verdient. Die Zeit dieser Lohnabhängigen ist weniger wert als die der Anderen, die meinen, sie könnten damit tun und lassen, wann und was sie wollen. Die literarische Aufarbeitung dieser Willkür, Manipulation und Banalisierung der Zeit im Roman ist das Ergebnis eines kreativen Prozesses, der der Niederschrift des Romans vorausgeht und ihn bis zum Schluss begleitet.

In seinem neuesten Buch Um Deus muito humano5 entwirft Frei Betto ein Porträt von Jesus Christus als eines menschlichen Gottes, der uns in jeder Hinsicht ähnlich ist, mit einer Ausnahme: fehlender Egoismus. Doch der Pastor in Deinem Roman Luxúria ist ein Egoist. Er segnet nicht die Gläubigen seiner Gemeinde, sondern ihre Geldscheine, eine Art Theologie des Wohlstandes, die nichts Befreiendes an sich hat.

Der missglückte Entwicklungsschub der letzten Jahre hat uns alle korrumpiert, unsere moralischen Werte, unsere Kultur und selbst unsere Religion. Viele wurden zu Lobrednern einer sinnlosen Protzerei und verantwortungslosen Verschuldung, als ob der Konsum einen Wert an sich darstellte, einen Beweis nicht nur für materiellen, sondern auch für spirituellen Erfolg! Traurig, dumm und gefährlich.

Fernando Bonassi, welches sind Deine nächsten Projekte?

Ich habe in den 80er Jahren eine Ausbildung in Filmwissenschaft an der Universität von São Paulo durchlaufen, aber erst jetzt, mit 53 Jahren und nach vielen Drehbüchern für andere Regisseure fühle ich mich dazu fähig, meinen ersten Spielfilm zu drehen. Mein nächstes Projekt ist, das Drehbuch für meinen Film zu schreiben. Er wird Chacina (Gemetzel) heissen und schildert zwölf Stunden im Leben sogenannter »ehrbarer Bürger«, die nachts auf Menschenjagd gehen!

Ich habe den Eindruck, dass Lateinamerika im allgemeinen und Brasilien im besonderen aufgrund des misslungenen Projektes der Linken und als Reaktion darauf in eine zutiefst konservative Phase hineinschliddert, bei der das menschliche Leben noch weniger wert ist als bisher. Es ist mein Ziel, das Eindringen des Bösen in unserer Gesellschaft darzustellen.

Albert von Brunn (Zürich, 05.03.2016)

 

(1) Bonassi, Fernando. Luxúria. Rio de Janeiro: Record, 2015.

(2) Hemingway, Ernest. Paris, ein Fest fürs Leben: a moveable feast. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. 8. Aufl. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2015, SS. 17-18.

(3) Freyre, Gilberto. Herrenhaus und Sklavenhütte: ein Bild der brasilianischen Gesellschaft. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Ludwig Graf von Schönfeldt. Stuttgart: Klett-Cotta, 1982.

(4) Spengler, Oswald. Der Untergang des Abendlandes: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1972, SS. 174-175. (dtv; 30073)

(5) Betto, Frei. Um Deus muito humano: um novo olhar sobre Jesus. Rio de Janeiro: Objetiva, 2015.

 

 

Fernando Bonassi, Foto: Cris Bierrenbach.
Fernando Bonassi
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Foto: Cris Bierrenbach.


Fernando Bonassi:
Luxúria

368 páginas
Editora Record, 2015


Albert von Brunn (Zürich) schreibt regelmäßig auf www.novacultura.de, zuletzt rezensierte er Bazar Paraná von Luis R. Krausz.