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Das Ich auf zwei Kontinenten:

»Mein deutscher Bruder« von Chico Buarque

Da war er, der Brief, versteckt auf Seite 35 im Buch Der goldene Zweig von James George Frazer, einem von Tausenden von Titeln, die die Regale des Hauses der Familie Buarque von oben bis unten füllten, selbst die Küche und das Badezimmer. Der Brief war in deutscher Sprache abgefasst, stammte von einer gewissen Anne Ernst, war an den Vater des Erzählers gerichtet und berichtete dem »geliebten Sergio« von der Geburt seines ersten Sohnes im Berlin der Dreißiger Jahre. Die Geschichte von Sérgio Günther, dem Erstgeborenen des Historikers Sérgio Buarque de Holanda, bildet den autobiographischen Kern des Romans Mein deutscher Bruder1 von Chico Buarque.

Zu Beginn wusste Chico Buarque nur, dass sein Vater in Berlin einen Sohn gezeugt hatte, der kurz vor der Nazizeit zur Welt kam, zu einem Zeitpunkt, da Sérgio Buarque de Holanda Deutschland bereits verlassen hatte und nach Brasilien zurückgekehrt war. Die Mutter, Anne Ernst, schrieb dem Vater des Kindes mehrfach nach Brasilien und teilte mit, das Baby habe den Namen des Vaters erhalten. Nach der Machtergreifung Hitlers und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ging jeder Kontakt verloren. Der Familie Buarque wurde lediglich mitgeteilt, das Kind sei von einer Familie Günther adoptiert worden
2.

Im Roman stößt der jüngste Sohn des Hauses, der Erzähler Francisco (Ciccio) durch Zufall auf den Brief in der Bibliothek seines Vaters, und alsbald entwickelt sich das Phantom des deutschen Halbbruders zu einer fixen Idee3. Diese Obsession entfaltet sich nicht im luftleeren Raum, sondern in der erstickenden Atmosphäre der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985), in der repressivsten Phase nach dem Ermächtigungsgesetz (AI-5) vom 13. Dezember 1968. Der reale Bruder des Erzählers, Domingos (Mimmo), ein unermüdlicher Schürzenjäger, wird eines Tages verschleppt und taucht nie wieder auf, ebenso der einzige Freund Ciccios, Ariosto Fortunato, mit dem er auf nächtlichen Streifzügen in gestohlenen Autos die in alle Richtungen wuchernde Metropole São Paulo erkundet. Ciccios Horizont engt sich immer mehr ein, Vater und Mutter sterben, er verliert seinen Job als Portugiesisch-Lehrer an der Universität und geistert durch die leere elterliche Wohnung, ein erfolgloser Überlebenskünstler auf der Suche nach seiner verlorenen Identität. Was bleibt? Nur der Sprung über den Atlantik.

»Am frühen Abend des 20. Mai 2013 stieg ich in das Flugzeug der Lufthansa im Bewusstsein, dass ich nicht würde schlafen können. Ich ahnte nicht, dass Flugzeugsitze so eng sind, auch nicht, dass eine deutsche Bohnenstange mich mit dem rechten Knie bedrängen würde«4. Die lebenslange Obsession des Erzählers endet mit einer Deutschlandreise, nach Berlin, in das Wohnviertel des mysteriösen Bruders. Nach zahlreichen Irrwegen wird Ciccio schließlich im Archiv der UFA in Babelsberg fündig: die Aufzeichnung einer DDR- Fernsehsendung aus den Sechziger Jahren zeigt einen bebrillten Entertainer namens Sergio Günther mit der schönen Stimme seines Vaters, Bücherwurm und Kettenraucher, verstorben 1981 an Krebs.5

»Stets war ich der Meinung, dass die literarische Leidenschaft, die Freude am Geschichtenerzählen, das Vertiefen in die Geschicke von Personen, die anders sind als wir selbst, eng verwandt ist mit der Schizophrenie, dem Wahnsinn der Persönlichkeitsspaltung, dem Eintauchen in ein anderes Ich, seine Stimme, seinen Geruch, sein Gesicht, die vielleicht niemals existiert haben«, schreibt der kolumbianische Schriftsteller Héctor Abad Faciolince in seinem Essayband Fallstricke der Erinnerung6 und fährt fort »Schreiben ist ein Akt der Entpersönlichung: wir hören auf, zu sein, wer wir sind und verwandeln uns in jemand anderen, zu dem wir fast geworden sind oder hätten werden können«. Chico Buarque spielt dieses Spiel mit seinem deutschen Bruder im Roman: was wäre, wenn ich nicht in Brasilien zur Welt gekommen wäre, sondern im Deutschland der ausgehenden Weimarer Republik? Wäre ich wohl der Hitlerjugend beigetreten, hätte ich im DDR-Fernsehen gesungen statt im Brasilien der Militärdiktatur?

Francisco Buarque de Hollanda wurde am 19. Juni 1944 in Rio de Janeiro geboren, erbte von seinem Vater, dem Historiker Sérgio Buarque de Hollanda (1902-1982), die Leidenschaft für Bücher und historische Zusammenhänge und von seiner Mutter Maria Aurélia die musikalische Sensibilität. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Italien studierte er an der Universität von São Paulo Architektur, einem Vivarium für neue Ideen, bevor der Militärputsch 1964 alle Hoffnungen zerstörte. Nach dem Ende der Diktatur startete Chico Buarque seine literarische Karriere mit dem Roman Estorvo (1991, dt. Der Gejagte 1994), Benjamin (1995), Budapeste (2003, dt. Budapest 2006) und Leite derramado (2009, dt. Vergossene Milch 2013), alle übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner. Mein deutscher Bruder ist sein fünfter und vorläufig letzter Roman, ein Spiel von Spiegeln mit der Identität eines Autors, der die existenziellen Alternativen eines Ichs auf zwei Kontinenten auslotet.

Abert von Brunn, Zürich 06.09.2016 



1  )Buarque, Chico. Mein deutscher Bruder: Roman. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner. Frankfurt am Main: Fischer, 2016.

2 )Miranda, André. »Irmão de Chico Buarque é ponto de partida para novo livro do artista« in: O Globo 15.11.1914 oglobo.globo.com (2.8.2016).

3 ) Läubli, Martina. »Das Phantom des Bruders« in: Neue Zürcher Zeitung 29.7.2016, S. 38.

4) Buarque, Chico. Mein deutscher Bruder: Roman. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner. Frankfurt am Main: Fischer, 2016, S. 223.

5 )Jessen, Jens. »Pochen des aufgewühlten Herzens« in: Zeit Online 19. Mai 2016 www.zeit.de (2.8.2016).

6 )Abad Faciolince, Héctor. »Los ex-futuros« in: Traiciones de la memoria. Madrid, Santillana, 2010, SS. 243-246.

 


 

 

 

Chico Buarque:
Mein deutscher Bruder
Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner
257 Seiten
S. Fischer, 2016


Weitere Rezensionen:
http://www.deutschlandradiokultur.de/
Die Zeit (19.05.206)
Neue Zürcher Zeitung (29.07.2016)


Originalausgabe



O irmão alemão
Companhia das Letras, 2014


Weitere Titel von Chico Buarque in deutscher Übersetzung:

Der Gejagte
, Hanser 1994 / Rowohlt 1997 (vergriffen)
Budapest
, S. Fischer 2006 / Taschenbuchausgabe: 2010
Vergossene Milch, S. Fischer 2013

Alle übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner.


Albert von Brunn schreibt regelmäßig für www.novacultura.de. Zuletzt führte er ein Interview mit Fernando Bonassi über dessen neuesten Roman Luxúria.