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»Sie müssen auf der Stelle fliehen …«

Rafael Cardoso: Das Vermächtnis der Seidenraupen

Als der brasilianische Kunsthistoriker Rafael Cardoso Mitte zwanzig ist, dämmert ihm, dass mit seiner Familiengeschichte etwas nicht stimmt. Erst ist es die Großtante Malou in Paris, die entsprechende Bemerkungen macht, dann tauchen Papiere auf, die belegen: Der Urgroßvater, unter dem Namen Hubert Studenic als Seidenraupenzüchter in Barbacena verstorben, war nicht Franzose gewesen, wie bis dahin angenommen, sondern hatte einmal Hugo Simon geheißen und war Anfang des 20. Jahrhunderts ein einflussreicher, linksliberaler Bankier, Kunstmäzen, kurzzeitig für die USPD sogar Finanzminister im preußischen Rat der Volksbeauftragten.

 »Sie müssen auf der Stelle fliehen«, hatte man ihm im März 1933 am Telefon geraten. In Berlin sind die Nazis an der Macht, niemand kann mehr – trotz oder wegen seiner Bekanntheit – für seine Sicherheit garantieren.

»Hugo spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Es war ein seltsames Gefühl, er hätte nie gedacht, dass es das wirklich gab. wie konnte Blut gefrieren? Und doch, er spürte es jetzt. Die Furcht, die schon seit Wochen tief in seinen Eingeweiden schlummerte, erfasste plötzlich sein ganzes Wesen mit einem Schrecken, der ihm als feuchtkalter Schweiß auf die Haut trat …«

 Die Familie packt und reist heimlich nach Frankreich ab. Für ein paar Wochen, wie sie glauben. Doch erst der Urenkel – Rafael Cardoso – wird, fast ein Jahrhundert später, wieder in Berlin wohnen.

In Frankreich engagieren sich Hugo Simon und sein Schwiegersohn Wolf Demeter in Exilkreisen, in der Flüchtlingshilfe, bauen eine neue Existenz auf, bis sie von der Kollaborationsregierung ausgebürgert, von Paris über Marseille, Spanien und Portugal fliehen und schließlich mit falschen Papieren nach Brasilien gelangen. Soweit ist es auch auf Wikipedia nachzulesen.

Rafael Cardoso, im deutschen Sprachraum bereits durch die Erzählungen Sechzehn Frauen (Übers.: Peter Kultzen) bekannt, zeichnet den Weg der Familie Simon in literarischer Form nach, hier und da unterbrochen von der Geschichte seiner eigenen Recherche, und, das macht den Roman auch historisch besonders, widmet sich den diversen Versuchen der Flüchtlinge, in Brasilien Fuß zu fassen, dort, wo man eigentlich nicht sein wollte, wo man nur aus der Not heraus landete, weil die USA, damals das Traumziel aller Emigranten, unerreichbar war.

»Damals evozierte der Name Brasilien wundersame Visionen von träger Sinnlichkeit (…) Wie weit weg das alles schien, als er nun den roten Schlamm sah, der von den Reifen an die Kotflügel hochspritzte

Cardoso, der Historiker, der dem Buch auch ein ausführliches Glossar und Personenregister beifügt, erweist sich in diesem Roman als ein Erzähler von Rang, der insbesondere im zweiten Teil sehr genau die Verhältnisse in Brasilien beleuchtet, wo man die Einwanderer mit Argwohn betrachtet, bespitzelt, ausbeutet und wiederum in einer Diktatur lebt. Und wenn Wolf Demeter, alias André Denis sagt: »In Brasilien weiß niemand, wer ich bin. Ich habe keinen Namen«, drückt er damit viel mehr aus als seine momentane Situation als unter falschem Namen eingewanderter europäischer Künstler.

Und nicht zuletzt liest sich Das Vermächtnis der Seidenraupen in diesen Zeiten, in denen Emigration, Flucht und Entwurzelung wieder ein Thema sind, als ein Buch, das Tag für Tag aktueller wird. Neben den historischen Fakten stehen die Unsicherheit, das tägliche Bangen um Leib und Leben, auch die grandiosen Fehleinschätzungen der Protagonisten, insbesondere am Anfang, als man noch glaubte, der Nazi-Spuk sein in ein paar Wochen Vergangenheit. In Vielem kann und sollte es durchaus neben entsprechenden Werken von Anna Seghers oder Erich Maria Remarque stehen.

Das Vermächtnis der Seidenraupen, auf Englisch verfasst und von Luis Ruby ins Deutsche übersetzt, zeitgleich in einer portugiesischsprachigen Ausgabe unter dem Titel O remanescente (dt. etwa: Der Überlebende, der Übriggebliebene) bei Companhia das Letras in Brasilien erschienen, endet im Mai 1945. Eine Fortsetzung ist geplant, schließlich geht auch die Familiengeschichte weiter. Nach der Machtergreifung der Militärs 1964 ging die Familie aus Brasilien in die USA, wo Rafael Cardoso aufwuchs und studierte. Seinen Roman verfasste er schließlich in Berlin, 80 Jahre nachdem sein Urgroßvater die Stadt verlassen musste.

mk, 20.06.2017 

 

 

 

Rafael Cardoso:
Das Vermächtnis der Seidenraupen.
Geschichte einer Familie.
Aus dem Englischen von Luis Ruby
572 Seiten
S. Fischer 2016

Leseprobe auf der Website des Verlags >>

Auf Portugiesisch: 
O remanescente
496 páginas
Companhia das Letras 2016


Auf Deutsch ebenfalls lieferbar:

Sechzehn Frauen.
Geschichten aus Rio.
Aus dem Portugiesischen von Peter Kultzen
S. Fischer 2013


Weitere Rezensionen:

Carsten Hueck im Deutschlandfunk (15.10.2016):

Eva Karnofsky auf WDR 5 (06.01.207)

Jane Zahn in Ossietzky (25/2016)

Maike Albath, Süddeutsche Zeitung (16.01.2017)

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