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03.06.2010 Letzte Nacht im Hafen der Hoffnung Leopoldo Brizuelas Lissabon-Roman
»Ich hörte Möwen über das Dach der Pension fliegen, die im Winde krächzten und blickte zum Fenster hinaus, über die Dächer des Bairro Alto, die sich in unregelmäßigen Abständen übereinander schoben bis hinunter zum Fluss«, schreibt der argentinische Schriftsteller Leopoldo Brizuela (1) über die portugiesische Hauptstadt. »Dann trat ich vor die Tür und ging im Nieselregen ans Ufer hinunter. Auch dort, am Cais do Sodré hatte es Möwen. Sie kamen auf mich zu und hofften auf etwas Essbares. Ich blickte in ihre gierigen Augen, und da war der Fado, diese Melancholie, dieser Hunger und dieser Wagemut«. Leopoldo Brizuela wurde 1963 in La Plata geboren, wo er Literatur studierte. Mit siebzehn Jahren begann er, Romane zu schreiben und verdient sich sein Leben als Journalist und Übersetzer. 1999 gelang ihm der Durchbruch mit dem Roman Inglaterra, der ihm den angesehenen Literaturpreis der Zeitung Clarín einbrachte. Zwei Jahre später reiste er mit einem Stipendium der Gulbenkian-Stiftung nach Lissabon, nachdem er sich jahrelang mit dem Fado auseinandergesetzt und zu diesem Thema 1995 ein kleines Buch (2) herausgegeben hatte. Heuer erschien zur Buchmesse in Buenos Aires sein neuester Roman, Lisboa: un melodrama (3), der im Herbst in deutscher Übersetzung und unter dem Titel Nacht über Lissabon im Suhrkamp-Verlag erscheinen wird. Fluchtpunkt Lissabon: der letzte Stern von Sefarad »Unrasierte Männer und Frauen, die auf der Strasse Feuerstellen improvisierten, kahlgeschorene und verängstigte Kinder, deren Neugier jedem Schicksalsschlag zu trotzen schien (...). Alte Männer saßen auf Kisten oder Taschen und trugen in ihren Blicken die Namen von Städten – Amsterdam, Brüssel, Warschau – und zugleich das Bild ihrer Verwüstung« (4). Wir schreiben den 18. November 1942. Lissabon, der »einzige freie und neutrale Hafen in Europa, ist zum Treffpunkt all derer geworden, die vor Hitler fliehen«, erinnert sich Jahre später Erika Mann (5). »Denn weder eine Weltausstellung, noch Festspiele haben die Menschen in diesen Strassen angelockt. Verbannte sind es, Heimatlose, die hier versammelt sind; ihre Zahl schwankt, aber immer sind es Tausende; ohne Gepäck, ohne Geld, oft ohne Ausweispapiere kommen die Flüchtlinge hier an – und was können sie hier tun? Nur eines: bleiben, solange man es ihnen erlaubt. Nur warten – auf was? Auf das rettende Schiff, das sie fortbringen soll, irgendwohin, nur weg, weiter weg vom Feind, der ihnen auf den Fersen war, wo immer sie auch hingingen. Er hat sie durch ganz Europa gejagt, und nun warten sie auf das Rettungsschiff«. Boa Esperança, gute Hoffnung, heißt das Schiff im Roman von Leopoldo Brizuela, Tausende versuchen, einen Platz auf dem alten Kahn zu ergattern, um die rettende Neue Welt zu erreichen, egal wohin. Da explodiert eine Bombe an Bord – wird die Boa Esperança auslaufen oder werden die Flüchtlinge im Hafen von Lissabon festsitzen wie in einer Rattenfalle, bis die deutschen Truppen den Atlantik erreichen? Als im März 1933 in Deutschland die Judenverfolgung einsetzte, entstand für die orthodoxen Juden in Deutschland und Osteuropa ein Problem. Viele wollten nach Spanien fliehen, doch seit 1492 ist die Iberische Halbinsel mit der Vorstellung von Inquisition, Vertreibung und – im Falle Portugals – mit der zwangsweisen Bekehrung von 1497 verknüpft. Stellte die Flucht nach Spanien also eine Verletzung der Halacha, des jüdischen Verhaltenskodexes dar? Der orthodoxe Rabbiner Kejiel Weinberg stellte diese Frage seinem Kollegen Iosef Zusmanovich von der Rabbinerschule in Slobodka (Litauen), denn dieser stammte aus einer der sephardischen Familien, die 1492 aus Spanien vertrieben worden waren. Zusmanovich zog in seiner Antwort vom 19. Juli 1933 dieses Anathema in Zweifel und erbot sich, es formell aufzuheben, damit »unsere Brüder, die Kinder Israels, in Spanien leben können« (6). Die spanische Republik machte in den Dreißiger Jahren Anstalten, ihre Politik gegenüber den Juden grundsätzlich zu revidieren und so den Flüchtlingen aus Deutschland eine neue Heimat zu gewähren. Der spanische Bürgerkrieg (1936-1939) und der Sieg von General Francisco Franco machte all den Hoffnungen ein Ende. Auch in Lissabon wurde von der zionistischen Vereinigung Hejaber die Hilfsorganisation Comassis aus derTaufe gehoben. Ihr Präsident wurde der Nationalökonom Moisés Bensabat Amzalek (1892-1978), ein Studienkollege des Diktators Salazar (7). Am 21. Juni 1941 unterzeichnete Marschall Pétain die demütigende Kapitulationsurkunde, die es der Gestapo erlaubte, auch im unbesetzten Frankreich auf jüdische Flüchtlinge Jagd zu machen. Eine Lawine von Flüchtlingen näherte sich den spanischen Grenzen. Unter Missachtung aller Vorschriften stellte der Generalkonsul in Bordeaux, Aristides Sousa Mendes (1885-1954) Tausenden portugiesische Visen aus, mit denen sie bis zum 24. Juni die spanische Grenze in Hendaye überqueren und nach Lissabon fliehen konnten, jenem letzten Stern von Sefarad, der Rettung in Gestalt eines Schiffes nach Übersee versprach. Die Namen der portugiesischen Schiffe Nyassa, Mouzinho und Serpa Pinto gingen in die Geschichte ein, die vom Hafen der Hoffnung hell erleuchtet und mit weit sichtbaren portugiesischen Flaggen in rot und grün nach Übersee fuhren (8). Portugal war eines der letzten Länder Europas, das mit dem Problem der jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich konfrontiert wurde. Portugal war nicht in der Lage, Ausländer aufzunehmen. Das Salazar-Regime machte diesbezüglich keinerlei Anstalten. Ausländer wurden als Keime der Infiltration betrachtet, die mit dem ‚nationalen Geist’ unvereinbar waren und soziale Spannungen hervorrufen konnten. Trotz dieser Ausgangslage durchquerten rund 40'000 jüdische Flüchtlinge das Land am Atlantik. Nach dem Ende des spanischen Bürgerkrieges hatte Salazar begriffen, dass es in seinem Interesse lag, die Iberische Halbinsel zur neutralen Zone im Zweiten Weltkrieg zu machen. Er stattete die politische Polizei P.V.D.E. (Polícia de Vigilância e de Defesa do Estado) unter der Leitung von Kapitän Agostinho Lourenço (1886-1964) mit weitreichenden Vollmachten aus, um eine starre und klar abgegrenzte Visumspolitik durchzusetzen, die sich gegen Polen, Russen und Juden und ganz allgemein gegen unerwünschte Ausländer richtete (9). Mit Hilfe der politischen Polizei versuchte die Gestapo mehrmals, politischer Gegner in Portugal habhaft zu werden. Es gelang ihr jedoch nur in einem Fall: so wurde der auf seine Weiterreise nach USA wartende Journalist Berthold Jacob (1898-1944) am helllichten Tag entführt und über Spanien nach Berlin verschleppt (10). Razzien in den von Flüchtlingen bevorzugten Cafés lösten Panik aus. Zwischen 1937 und 1945 wurden mehr als 300 deutsche Flüchtlinge verhaftet und etliche mehrere Monate festgehalten. Da Portugal keine andere Rolle als die eines Transitlandes übernehmen wollte, mussten die Gestrandeten immer wieder nachweisen, dass sie sich intensiv um ihre Weiterreise bemühten und die Ursache ihres Bleibens einzig die prekäre Transportsituation war (11). Unter diesen Umständen ist es wenig verwunderlich, wenn die meisten Flüchtlinge von der portugiesischen Hauptstadt nicht viel mehr als die Baixa rund um den Rossio-Platz und die Avenida da Liberdade sahen und ihre Pensionen und Cafés nur verliessen, um sich in verschiedene Schlangen vor der Post an der Praça do Comércio, vor den Büros der Schifffahrtsgesellschaften, besonders der American Express Line, der jüdischen Hilfsorganisation Comassis und den diversen Konsulaten im Lapa-Viertel einzureihen (12). Die Geographie der portugiesischen Hauptstadt beschränkt sich im Roman auf diese Viertel, in denen die Handlung jener Schicksalsnacht des 18. November 1942 abläuft, zwischen zwei Bombenanschlägen. Schrecken der Geschichte, Angelus Novus, magische Grotte »Eines Tages möchte ich etwas über dieses grauenvolle Phänomen schreiben, den Schrecken der Geschichte, den Terror des Menschen, der mit seinesgleichen konfrontiert wird«, schreibt Mircea Eliade am 29. Januar 1944 am Strand von Cascais in sein Tagebuch13. »Es stimmt nicht, dass der Mensch sich vor der Natur fürchtet oder vor den Göttern. Diese Angst ist zu vernachlässigen, verglichen mit dem Horror, den der Mensch im Zuge der Geschichte zu erleiden hatte. Unsere ist die Zeit des Terrors par excellence. Die zukünftigen Meisterwerke der Literatur werden von dieser erschreckenden Erfahrung ausgehen müssen« (14). Die Nacht über Lissabon ist insofern ein klassischer Roman als die drei Einheiten respektiert werden: Ort, Zeit und Handlung. Das ganze Geschehen spielt im Hafenviertel von Lissabon rund um den Cais de Alcântara, wo die Schiffe nach Übersee ausliefen. Die Zeit der Handlung ist eine einzige Nacht vom 18. auf den 19. November 1942 und der Roman kreist um einen Bombenanschlag gegen das letzte Schiff, die Boa Esperança im Hafen, die die Flüchtlinge in die Karibik bringen soll. Der erste Anschlag misslingt, der Attentäter, der belgische Bankier Oswald de Maeyer, verbrennt sich nur die Hand und versteckt sich in der Residenz der argentinischen Botschaft, wo der Musiker Enrique Santos Discépolo und seine Freundin Tania auf das Auslaufen ihres Schiffes nach Buenos Aires warten. Gleichzeitig wird der argentinische Konsul Eduardo Cantilo in eine mysteriöse Villa nach Cascais bestellt, wohin er von einem jungen Mann, Ricardo de Sanctis, begleitet wird, den seine Umgebung für einen Nazi-Agenten hält. Da ist auch Mircea Eliade, der Attaché der rumänischen Gesandtschaft in Lissabon (15): »Jemand kam ihnen entgegen. Es war der rumänische Geschäftsträger, jener Herr Eliade, der ihn verschämt durch seinen Zwicker anblickte (...) und ihn mit erstickter Stimme einlud, zu seinem Haus am Strand von Cascais zu kommen, um dort die Nacht zu verbringen. Gleichzeitig schielte Eliade auf seinen Begleiter, den jungen Mann, auf dessen Gesellschaft er offensichtlich keinen Wert legte«. Doch der argentinische Konsul erfasst den Wink des rumänischen Diplomaten nicht, der ihn vor einem Naziagenten warnen will und begleitet Ricardo, den geheimnisvollen jungen Mann in eine Höhle am Strand (16): »Sie gingen jetzt abwärts, in Richtung Meeresufer, aber nicht zwischen Pinien, sondern zwischen hohen Schilfwedeln, deren Rispen sich mit einem gluckernden Geräusch im Winde wiegten. Der Atlantik, den sie vor kurzem in der Tiefe toben hörten, war nun wieder da, wurde aber durch ein Echo verstärkt, das von der zerklüfteten Felsküste zurückgeworfen wurde, die den Namen Boca do Inferno, Höllentor, trug«. Das traditionelle Ritterepos verlegte die diversen Heldentaten seiner Paladine an eine begrenzte Zahl von Schauplätzen, als da sind der Wald, das Schloss, die Quelle, die Insel, der Kreuzweg oder die Höhle. Die Höhle entsprach einem Ort, der schwer zugänglich, ungewohnt und furchterregend war, wo der Ritter eine Reihe von Prüfungen durchmachen musste, um seinem Ruf gerecht zu werden. Es gab aber auch Ritter, die eine gewisse Zeit in Höhlen wohnten, in Abkehr von der Welt der Menschen, besonders, wenn sie von ihrer Dulcinea verschmäht wurden (17). Im Roman von Leopoldo Brizuela ist der verschleppte argentinische Konsul Eduardo Cantilo ein Anti-Held. In der Höhle über der brausenden Gischt des Atlantiks schüttet er Ricardo de Sanctis sein Herz aus und bekennt seine Schuld am Tod seines unehelichen Sohnes. Den vermutlichen Naziagenten kümmert dies alles wenig; sein Ziel besteht darin, dem Attentäter Oswald de Maeyer ein Visum für Argentinien zu verschaffen und den missglückten Bombenanschlag gegen das Schiff zu wiederholen. Der Konsul kommt dabei ums Leben. Mircea Eliade verbindet als Figur im Roman die Ereignisse rund um das Flüchtlingsschiff mit zwei Bildern, die den Schrecken der Geschichte verkörpern: Da ist zunächst die magische Höhle und dann das Bild eines jungen Mannes, halb Engel, halb Satan (18): »Plötzlich bemerkte Oliverio auf der Planke einen jungen Mann, der wie die erste Figur eines neuen Stückes herunterkam. Er erkannte ihn nicht sofort, denn er hatte ihn niemals bei Tageslicht gesehen. Der Junge hatte die Klappen seines Mantels bis zum Kinn hochgeklappt und trug eine Mütze bis über die Ohren, wohl, um sich gegen den eisigen Wind und neugierige Blicke zu schützen: Der Engel«. Oliverio, eine Art Alter ego des Schriftstellers, ist fasziniert von dem jungen Mann mit dem grünen Pullover, eine Erinnerung an einen der berühmtesten Fados von Amália Rodrigues (19). Doch der Engel der Geschichte ist mehr als das, es ist ein Bild von Paul Klee, das Walter Benjamin in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens mit sich herumtrug. Es ist der Angelus Novus (1920), ein postapokalyptischer Engel: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt“ schreibt Benjamin. »Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat u nd so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann« (20). Dieser Engel überschneidet sich im Roman mit dem Jungen im grünen Pullover aus dem Gedicht von Pedro Homem de Mello, halb Angelus Novus, halb Angelus Satanus, eine Verkörperung des Schreckens, der Verführung und der Verderbnis, mit dem die letzte Nacht in Lissabon zu Ende geht. Totentanz zwischen Tango und Fado »Während dem Vorspiel zu jenem Fado schloss Amália die Augen und fand in sich alsbald jene Kraft, die den Schmerz überwand(...). Während sie sich mit einer Hand auf die Schulter des Gitarristen stützte, als hätte sie Angst, sich allein in die Tiefen des Fado vorzuwagen, schien sie zugleich einer alten Kränkung nachzusinnen, runzelte jedoch nur eine Augenbraue, während sich in ihrer Kehle ein Schrei bildete, der kurz an ihren Lippen hängen blieb und dann zum vollen Klang anschwoll: Mouraria« (21) Der portugiesische Fado, entstanden am Flussufer auf der Trennlinie zwischen Land und Wasser, trägt die Merkmale dieses Ursprungs in sich. Er erzählt – so Brizuela (22)- von Frauen, deren Leben nur aus Verlusten besteht, von Dichtern, die den Schmerz verfluchen und von Liebe, aber ohne jede Intimität. Heutzutage leidet der portugiesische Fado daran, dass sein Image eng mit den Jahren der Diktatur verbunden ist. Dies war jedoch während des Zweiten Weltkriegs noch nicht der Fall, als Amália in den Hafenkneipen von Lissabon zu singen begann (23). Leopoldo Brizuela beruft sich auf diese frühe Tradition des Fado und verknüpft sie mit einer anderen aus seiner Heimat, dem Tango von Enrique Santos Discépolo (1901-1951). Discépolo und seine Freundin Tania werden mitten im Krieg auf eine fiktive Europa-Reise geschickt und landen am Rossio-Bahnhof. Was als Triumphzug begann, endet als Trauerzug (24). Enrique Santos Discépolo, Sohn eines Emigranten aus Neapel, war kein Mann des Kabaretts. Aber als seine Freunde ihn ins Follies Bergères in Buenos Aires verschleppten, verliebte er sich sterblich ein eine spanische Sängerin mit dem Künstlernamen Tania, eigentlich Ana Luciano Divis (1893-1999). In der Spanierin, von ihm nur „la Gallega“ genannt, sah er seine Muse und die Interpretin seiner Lieder, die sie zuerst aus Neugierde und später mit Leidenschaft sang. Für Tania war Enrique jener kleine, magere und schüchterne Mann, nur wenig größer als sie selbst, kein Vertreter des Tangos, wie sie ihn aus den Kabaretts von Buenos Aires kannte. Dafür war er viel zu intellektuell und zu wenig praktisch veranlagt (25). 1935 unternahmen die beiden die lang ersehnte Reise nach Europa, feierten Erfolge in Paris und Madrid, aber Lissabon wurde zur Enttäuschung, eine vergilbte Photographie. Im Roman wird diese Reise 1942 wiederholt, unter ungünstigen Vorzeichen: Discépolo ist an Tuberkulose erkrankt und Tania will ihn verlassen. Der schwindsüchtige, todgeweihte Tango-König geistert durch die Nacht von Lissabon und vollführt im Roman von Leopoldo Brizuela eine Art Totentanz. Immer und überall hat der Mensch versucht, in der einen oder anderen Art und Weise der Todesangst zu entrinnen. Im Mittelalter ist ihm dies bis zu einem gewissen Grad gelungen, indem er an die Unsterblichkeit der Seele und sein Weiterleben im Jenseits glaubte. Doch bereits im 14. Jahrhundert kam es zur Krise, als die Schwarze Pest rund einen Drittel der Bevölkerung dahinraffte (26). Die Möglichkeit der Vernichtung des Menschen durch den Menschen dient als Leitmotiv für die Totentänze im 20. Jahrhundert, so beim flämischen Künstler Franz Masereel (1889-1972) und seinem Zyklus Danse macabre (1941). Es handelt sich nicht um einen Totentanz im klassischen Sinne. Die Skelettfigur ist nicht der Tod, der den einzelnen Menschen zum Tanz auffordert, vielmehr personifiziert sie den Krieg (27). Entscheidend ist dabei die Musik: in den spanischen Totentänzen spielt der Tod auf der charambola, einer Art Schalmei mit schrillem Klang. Zwar ist das Lied traurig, vom Rhythmus her scheint es sich eher um einen frenetischen Springtanz zu handeln, dem sich keiner entziehen kann, so auch im Roman von Leopoldo Brizuela, bei dem sich die Tradition des argentinischen Tangos mit dem hispanischen Totentanz verbindet. Vom traditionellen Totentanz bleibt die Struktur des Dialogs: der Roman besteht aus zahlreichen nächtlichen Zwiegesprächen zwischen Personen, die sich unter normalen Umständen kaum begegnet wären: Tania verbringt die Nacht mit einem portugiesischen Musiker in der Bar Cova do Galo, der argentinische Konsul mit dem Naziagenten Ricardo in einer Höhle und Discépolo mit dem Alter Ego des Schriftstellers im Gondarém, einer übelbeleumdeten Hafenkneipe. Sie alle reden sich die Todesangst von der Seele, wobei Discépolo den Tod verkörpert und zum Schluss wie ein Ballen Tau auf das letzte Schiff nach Argentinien verfrachtet wird. »Ach ja, wer weiß, wer weiß, ob ich dereinst nicht abgefahren, vor mir selbst, von einem Kai; ob ich nicht, Schiff in schräger Morgensonne, eine andere Art von Hafen verließ?« Diese Verse aus der Meeres-Ode von Álvaro de Campos (28) könnten als Epitaph über dem Roman von Leopoldo Brizuela und dem Lissabon der Kriegsjahre stehen, jenem traurigen Paradies, wie es Antoine de Saint-Exupéry kurz vor seinem Tod beschworen hat (29). Portugal hat sich radikal verändert, der Estado Novo wurde von der Nelkenrevolution hinweggefegt. Was bleibt, sind die Klänge des portugiesischen Fado, des argentinischen Tangos, die Erinnerung an ein kosmopolitisches Zeitfenster im Lissabon der Vierziger Jahre und dieser ausgezeichnete Roman von Leopoldo Brizuela, der es verdient, im Oktober zum Argentinien-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse entdeckt zu werden. Albert von Brunn (Zürich) 1 Brizuela, Leopoldo. „La Lisboa de Amalia“ in: La Nación 9.12.2009, p. 1. 2 Brizuela, Leopoldo. Fado. Buenos Aires: La Marca, 1995. 3 Brizuela, Leopoldo. Lisboa: un melodrama. Buenos Aires: Alfaguara, 2010. 4 Ibidem, S. 65. 5 Mann, Erika. „In Lissabon gestrandet“ in: Im Fluchtgepäck die Sprache. hsrg. von Claudia Schoppmann. Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1991, SS. 148-160. 6 Avni, Haim. „España y Portugal, su actitud respecto de los refugiados judíos durante la era nazi” in: Discriminación y racismo en América Latina. ed. Ignacio Klich y Mario Rapoport. Buenos Aires: Nuevohacer, 1997, SS. 255-271, Zitat S. 257. 7 Ibidem. 8 Heinrich, Christa. „Alltag der Verfolgten“ in: Lissabon/Lisboa 1933-1945: Fluchtstation am Rande Europas. Berlin: Akademie der Künste, Haus der Wannsee-Konferenz, 1995, S. 18. 9 Milgram, Avraham. „Portugal, the consuls, and the Jewish refugees, 1938-1941“in: Holocaust: critical concepts in historical studies. ed. by David Cesarani. New York: Routledge, 2004, Bd. 5, SS. 355-379. Wheeler, Douglas L. “In the Service of Order: the Portuguese Political Police and the British, German and Spanish Intelligence, 1932-1945” in: Journal of Contemporary History 18(1983), Nr. 1, SS. 1-25. 10 Mühlen, Patrick von zur. „Fluchtweg Portugal“ in: Lissabon/Lisboa 1933-1945: Fluchtstation am Rande Europas. Berlin: Akademie der Künste, Haus der Wannsee-Konferenz, 1995, S. 13-15. 11 Schäfer, Ansgar. „Haft im Hafen der Hoffnung“ Ibidem, SS. 28-29. 12 Pimentel, Irene Flunser. Judeus em Portugal durante a II Guerra Mundial: em fuga de Hitler e do Holocausto. Lisboa: Esfera dos Livros, 2006, S. 165. 13 Eliade, Mircea. “Jurnalul portughez” in: Jurnalul portughez ?i alte scrieri. prefa?? ?i îngrijire de ed. de Sorin Alexandrescu. Bucure?ti: Humanitas, 2006, Bd. 1, S. 223. 14 Cf. Ricketts, Mac Linscott. „Mircea Eliade and the terror of history: anti-historicism and the history of religions“in: International Journal on Humanistic Ideology 2(2008), SS. 15-35. 15 Brizuela, Leopoldo. Lisboa: un melodrama. Buenos Aires: Alfaguara, 2010, S. 250-251. 16 Ibidem, S. 256. 17 Cacho Blecua, Juan Manuel. „La cueva en los libros de caballerías: la experiencia de los límites“ in: Descensus ad inferos: la aventura de ultratumba de los héroes (de Homero a Goethe). ed. de Pedro M. Piñero Ramírez. Sevilla: Universidad de Sevilla, 1995, SS. 99-127. 18 Brizuela, Leopoldo. Lisboa: un melodrama. Buenos Aires: Alfaguara, 2010, S. 697. 19 Mello, Pedro Homem de. „O rapaz da camisola verde“ in: Le Fado d’Amalia: poèmes adaptés et présentés par Jean-Jacques Lafaye en collaboration avec Zéni d’Ovar. Arles: Actes sud, 1992, S. 94-95. Pedro Homem de Mello (1904-1984), Dichter und Jurist aus Porto. 20 Benjamin, Walter. „Über den Begriff der Geschichte“ in: Illuminationen: Ausgewählte Schriften I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 255. (Suhrkamp Taschenbuch; 345) 21 Brizuela, Leopoldo. Lisboa: un melodrama. Buenos Aires: Alfaguara, 2010, S. 89. 22 Brizuela, Leopoldo. Fado. Buenos Aires: La Marca, 1995, SS. 8-10. 23 Pellerin, Agnès. „Der Fado: Lieder von Sehnsucht und Schicksal“ in: Lettre International 87(2009), SS. 113-117. 24 Brizuela, Leopoldo. Lisboa: un melodrama. Buenos Aires: Alfaguara, 2010, S. 391. 25 Pujol, Sergio. Discépolo: una biografía argentina. Buenos Aires: Emecé, 1997, SS. 113-144. 26 Saugnieux, Joël. Les danses macabres en France et en Espagne et leurs prolongements littéraires. Lyon : Vitte, 1972, SS. 89-90, 110-121. (Bibliothèque de la Faculté des lettres de Lyon ; 30) 27 Jens Guthmann. „Die Bedrohung des Menschen durch den Menschen: Totentanz in der bildenden Kunst seit dem Zweiten Weltkrieg“ in: Ihr müsst alle nach meiner Pfeife tanzen. Wiesbaden: Harrasowitz, 2000, SS. 231-258. 28 Pessoa, Fernando. Poesias = Dichtungen. Aus dem Portugiesischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Georg Rudolf Lind. Zürich: Amman, 1987, S. 31. 29 Saint-Exupéry, Antoine de. „Brief an einen Ausgelieferten“ in: Gesammelte Schriften. übersetzt. von Oswald von Nostitz. 3. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1985. Bd. 3, SS. 183-187. (dtv: 595)
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