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03.01.2011 - albert von brunn


Wir kommen alle von unseren Reisen zurück - aber wir sind anders geworden …

Ein Interview von Albert von Brunn mit Leopoldo Brizuela

Leopoldo Brizuela © Jan Riephoff/Suhrkamp Verlag

Leopoldo, Dein Roman Nacht über Lissabon ist eine der wichtigsten Neuerscheinungen zum Argentinien-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse 2010. Gleichzeitig handelt es sich um einen der wenigen Romane, die das Thema der jüdischen Flüchtlinge in Lissabon während des Zweiten Weltkrieges behandeln. Daher die erste Frage:

- Wie ist Dein Roman entstanden und woher kommt Deine Leidenschaft für Portugal?

Leopoldo Brizuela: Alles fing damit an, dass ich eine Biographie der Fado-Sängerin Amália Rodrigues las über das traurige Paradies Lissabon im Zweiten Weltkrieg. Dieses rückwärtsgewandte Land musste sich urplötzlich mit den Flüchtlingen und mit dem 20. Jahrhundert auseinandersetzen. José Saramago hat mir einmal erzählt, wie er die Invasion der hübschen Jüdinnen mit kurzen Röcken erlebt hat, die auf der Strasse Zigaretten rauchten. Amália beschreibt auch die Feste in Lissabon, die Filme, die damals im Kino liefen und die ganze Atmosphäre in der einzigen hell erleuchteten europäischen Hauptstadt der Jahre 1939-1945. Was sich mir aufdrängte, war der Vergleich mit dem damaligen Buenos Aires und seiner Musik: Fado und Tango sind in vielerlei Hinsicht vergleichbar, vor allem was die musikalische Linie anbetrifft. Meine ursprüngliche Idee bestand darin, Künstler mit der damaligen Realität zu konfrontieren und mit einem diplomatischen Korps, das eigentlich nichts zu tun hatte und plötzlich aktiv werden sollte. Damit verbunden ist die Frage nach dem Engagement: Wie neutral kann man sein mitten in einer Tragödie?

- Wie bist Du auf den rumänischen Diplomaten und Religionsphilosophen Mircea Eliade gekommen, der damals in Lissabon akkreditiert war und eine Biographie von Salazar schrieb?

Leopoldo Brizuela: Was mich fasziniert, ist die Rolle des untätigen Diplomaten, der die Realität viel bewusster erlebt als meine übrigen Personen. Zudem ist Rumänien in mancherlei Hinsicht mit Argentinien vergleichbar. Mircea Eliade taucht in einem kritischen Moment auf, als nämlich der argentinische Konsul Eduardo Cantilo in eine Falle tappt. Mircea Elkiade fungiert in dieser Szene wie ein Zerberus vor dem Höllentor. Gleichzeitig ist er ein Garant dafür, dass die geschilderten Ereignisse etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben. Es gibt zwei Pole, um die sich die ganze Handlung dreht: den Patriarchen von Lissabon und seinen Intimus Ricardo De Sanctis auf der einen Seite und Konsul Cantilo und seinen toten Sohn auf der anderen Seite. Während der eine Pol der Erzählung alles unternimmt, um das Geheimnis zu lüften, unternimmt die Gegenseite alles, um es zu bewahren. So erklärt sich auch der Text des Tangos Secreto von Enrique Santos Discépolo, den seine Geliebte Tania in einer der Schlüsselszenen des Romans singt. Das Geheimnis ist in meinem Roman, das, was unaussprechlich bleibt. Lediglich dem Konsul – der einzigen Person, die kein Künstler ist – gelingt es zum Schluss, etwas auszusprechen. Sein Tod ist das Zeichen, mit dem der Roman endet.

- Enrique Santos Discépolo, der Tango-König, ist eine der Hauptfiguren des Romans, zusammen mit seiner Geliebten Tania. Daher die Frage: welche Bedeutung hat der Tango in Deinem Roman?

Leopoldo Brizuela: Der Tango ist die Musik, mit der ich aufgewachsen bin, ohne darauf zu achten. Andererseits ist es eine Musik, die zeitlos scheint und doch die Musik meiner Eltern ist. Diese Musik war darauf angelegt, Gefühle und besonders die Liebe auszudrücken. Ich hatte es darauf abgesehen, die Grenzen dessen auszuloten, was man damals sagen durfte, so etwas wie eine Erziehung der Gefühle. Was mich dabei interessiert, sind die Fragen, die im Tango aufgeworfen werden: Wer bist du, dass ich nicht entrinne? singt Tania, drückt damit die Schicksalhaftigkeit der Liebe aus und deutet zugleich darauf hin, dass sich etwas verändern kann.

- David Viñas, der argentinische Literaturkritiker, entwickelt in einem seiner Essays eine interessante Theorie über die sogenannte Bumerang-Reise des argentinischen Intellektuellen, der seit der Kolonialzeit bis zum heutigen Tag nach Europa reist, um sich zu bilden. Gemäss Viñas reisen die Argentinier, um zurückzukehren und sich zuhause feiern zulassen. Ich weiss nicht, ob Du dieser Idee zustimmen kannst. Auf jeden Fall wüsste ich gerne, welche Rolle die Reise in Deinen Roman spielt.

Leopoldo Brizuela: Mein Vater war Seemann und meine Mutter entstammt einer Familie katalanischer Einwanderer. Mir hat sich immer die Frage aufgedrängt: wie begreift ein Mensch seine eigene Identität in der Fremde, in fremden Kulturen? Die Protagonisten meines Romans – die alle Argentinier sind – verlassen ihre Heimat und werden mit etwas konfrontiert, was sie nicht in Worte fassen können und fühlen sich blockiert. Ich meinerseits bin in einer Atmosphäre gross geworden, in der vieles unaussprechlich war – mein erster Schultag fiel mit dem Militärputsch von 1976 zusammen. Ich musste reisen, um etwas zu erfahren. Diese Künstler, die während des Zweiten Weltkriegs nach Lissabon reisen, haben etwas mit mir zu tun, als ich noch ein kleiner Junge war. Sicher kommen wir alle von unseren Reisen zurück, aber wir sind dabei anders geworden.

- In letzter Zeit sind allerlei Reportagen über den argentinischen Währungskollaps (corralito) und seine Bedeutung für die argentinischen Schriftsteller erschienen. Wie hast Du diesen Moment erlebt?

Leopoldo Brizuela: Mein Roman hat sehr direkt mit dem Jahr 2001 zu tun, mit dem Kollaps in Argentinien und dem Sturz der Twin Towers in New York. Die daraus entstandene Notlage von Flüchtlingen und Bettlern erinnert in manchem an das Jahr 1940. Ich begann, meinen Roman im Jahr 2003 zu schreiben und versuchte dabei, Fragmente einzubauen und daraus ein Ganzes zu schaffen. Zuvor war es mir nur gelungen, kleine Fragmente aufzuschreiben, weil mich die Realität jeden Tag zu überwältigen drohte. Erst später gelang es mir, alle diese Elemente zu einem Ganzen zusammenzufügen, zu einer Art subjektiven Totalität.

 

Frankfurt am Main, 7. Oktober 2010.

Foto: © Jan Riephoff/Suhrkamp Verlag


Leopoldo Brizuela:
Nacht über Lissabon.
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
800 Seiten
Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-458-17478-3