angola . brasil . cabo verde . guiné-bissau . moçambique . portugal . são tomé e príncipe . timor lorosae

Ein Traum der Avantgarde aus Brasilien
Albert von Brunn über Luis S. Krausz: Verbannung

São Paulo, ein trüber Morgen: milchig-gelbes Licht sickert durch die Fensterscheiben, der Himmel ist von undefinierbarer Farbe und die Sonne weiß nicht so recht, ob sie durch die Rußschicht der Auspuffgase zu den Bewohnern der Stadt durchdringen kann. Der namenlose Ich-Erzähler irrt durch die Straßen der Megalopolis und erinnert sich an ein jüdisches Familienfest, das nur eines zelebriert – die verlorene Heimat drüben, Preußen und Österreich, Berlin und Wien.

Die zentrale Szene in dieser nostalgischen Pendelbewegung zwischen zwei Kontinenten ist die Episode der Uhren (1):

Von allen österreichisch-ungarischen Obsessionen meiner Familie hat keine den Umfang erreicht, den das besessene Sammeln von Uhren mit der Zeit annahm. Diese Obsession überschritt jedes Maß und wurde zu einem sehr ernst genommenen Unternehmen, dessen geheimes Ziel womöglich die Gefangennahme der Zeit selbst gewesen sein könnte.

Eine mit Korkplatten verstärkte Doppeltür verschließt den Eingang zum Uhrenzimmer, das vom Lärm der unterschiedlichsten Akkorde zahlloser Glockenspiele und Kuckucksuhren widerhallt – ein kakophones Konzert. Die geschilderte Szene des im Klangewirr seiner Uhren gefangenen Großvaters erinnert an eine der ersten Installationen der Moderne: Sculpture de Voyage (1918) von Marcel Duchamp (1887-1968) (2): Dünne Gummibänder, mit Schnüren verbunden und an den Wänden befestigt verwandelten das Zimmer des Künstlers in ein dichtes Geflecht aus Gummi. Für Marcel Duchamp im Exil in Buenos Aires (1918-19) bedeutete diese Installation die Verbannung schlechthin und zugleich eine symbolische Verbindung zwischen dem europäischen Surrealismus und der amerikanischen Avantgarde. Diese Szene findet sich in abgewandelter Form auch im Roman Rayuela (1963) von Julio Cortázar und verweist wiederum auf eine literarische Verknüpfung zwischen Europa und Südamerika. In der Verbannung von Luis Krausz schließt sich der Großvater in das Uhrenzimmer ein, katalogisiert Sammelobjekte und hüllt sich in ein Geheimnis, das seine Kinder und Enkel bis zu seinem Tod nicht entschlüsseln. Die Uhren sind die zentrale Metapher im Text und verknüpfen die Heimatlosigkeit mit der Avantgarde. Die Geschichte schließt denn auch konsequenterweise mit dem Diebstahl eines expressionistischen Gemäldes von Jakob Steinhardt (1887-1968) (3), das im jüdischen Museum in Berlin landet und somit den Weg nach Hause findet. Gleichzeitig erinnert dieser Diebstahl an das unbewältigte Kapitel des Nazi-Kunstraubs aus jüdischem Familienbesitz. Uhren und Bilder werden zu doppeldeutigen Symbolen einer verlorenen Kultur und gleichzeitig zu abgründigen Metaphern des Holocaust.

Wie eine postmoderne Pilgerfahrt von Herberge zu Herberge schildert Luis Krausz die Abenteuer seines Ich-Erzählers auf zwei Kontinenten. Doch die obsessive Suche der Familie nach dem verlorenen Europa hinterlässt nur eine Art Rumpelkammer in einer Vorstadt von São Paulo, wo sich die Bruchstücke des Kulturerbes und die Möbel einer ruinierten jüdischen Mittelklasse mit dem Schimmel und den Ratten um den Platz streiten. Die Pilgerfahrt führt schließlich auch nach Europa, nach Deutschland, jedoch nicht in die erträumte Schwarzwald-Idylle der Kuckucksuhren, sondern in die Mondlandschaft des Kohlenpotts von Duisburg und in die leere Altstadt von Zürich. Europa bedeutet nicht die kulturelle Apotheose des Heimkehrers, sondern nur eine Wanderschaft durch einen zerstörten Kontinent. Im Reisegepäck bleibt letztlich nur die Sprache. Die Mitglieder der Familie, Gralshüter der europäischen Kultur, sterben aus. Der Erzähler, ihr letzter Nachkomme, kann nur noch die Geschichte erzählen. Es ist seine einzige Rettung.

Luis Sérgio Krausz wurde 1961 in São Paulo geboren, studierte Hebräisch und Jüdische Kultur an der Universität von São Paulo, in New York und in Zürich. Verbannung ist sein erstes Buch, das auf Deutsch zum Brasilien-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse erschienen ist. Schon jetzt eine Art Geheimtipp, könnte es zur grossen Entdeckung dieser Buchmesse werden, eine Geschichte der Migration zwischen Europa und Brasilien unter dem Zeichen der Avantgarde.

Albert von Brunn (Zürich)

(1) Krausz, Luis S.
Verbanung: Erinnerung in Trümmern. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Manfred von Conta. Berlin: Hentrich & Hentrich, 2013. (Jüdische Spuren; 3)

(2) Speranza, Graciela
Fuera de campo: literatura y arte argentinos después de Duchamp. Barcelona: Editorial Anagrama, 2006, SS. 155-162, 167.

(3) Jakob Steinhardt in Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Steinhardt (9.4.2013).

Luis S. Krausz:
Verbannung.
Erinnerungen in Trümmern.
aus dem brasilianischen Portugiesisch von Manfred von Conta.
160 Seiten
Hentrich & Hentrich 2013

Original:
Desterro. Memórias em ruínas
164 páginas
Ed. Tordesilhas 2011



Luis S. Krausz wurde 1961 in São Paulo geboren. Er ist Schriftsteller und Übersetzer sowie Professor für hebräische und jüdische Literatur an der Universidade de São Paulo. Verbannung ist sein erster Roman.



Albert von Brunn schrieb zuletzt auf www.novacultura.de über
Luiz Ruffato