angola . brasil . cabo verde . guiné-bissau . moçambique . portugal . são tomé e príncipe . timor lorosae

Poetik des Körpers
Vera Kurlenina über Ricardo Domeneck: 
Körper. Ein Handbuch

Ein junger Mann liegt flach in der Badewanne und, während das Wasser einläuft, spricht er davon, dass Poesie keine rein textuelle Angelegenheit sei, sondern vor allem Performance, gemacht von lebendigen Männern und Frauen, vorgetragen von ihren individuellen Stimmen und gerichtet an eine bestimmte Zielgruppe. »Welcher Gruppe dient dein Gedicht?«, hat er noch Zeit zu fragen, bevor das Wasser sein Gesicht ganz bedeckt. Ein paar Sekunden lang sehen wir ihn dann unter Wasser blinzeln. Kleine Blasen steigen von seinen Lippen auf. Ohne Luft keine Stimme, ohne Stimme kein Gedicht.

Der Mann, der in diesem Youtube-Video eine Art multimediale Besinnung auf die oralen Wurzeln der Poesie predigt und sich in die Nachfolge der antiken Barden, der mittelalterlichen Troubadours und der konkreten Dichter stellt, heißt Ricardo Domeneck. Er ist homosexuell, ist in der brasilianischen Provinz aufgewachsen, hat eine Zeitlang in den USA gelebt und ist seit einigen Jahren Wahlberliner. All das ist von Bedeutung, wenn man über seine Gedichte sprechen will. Denn dieser Autor pfeift auf den Tod des Autors und betreibt in seiner Lyrik, seinem Blog, seinen Performances und Videoinstallationen ständige Selbstinszenierung. Wir können zuschauen, wie er in seinem in die Stube des armen Dichters nach Karl Spitzweg umdekorierten Berliner Zimmer ein Gedicht vorliest. Und manchmal lädt er auch stumme Aufnahmen von jungen Männern hoch, die sich rasieren oder im Bett rauchen. Er wolle den Menschen ihren Körper zurückgeben, so Domeneck in einem Interview. Dafür sei er bereit, auf einen Teil seiner Privatsphäre zu verzichten.

In Brasilien hat Ricardo Domeneck bereits vier Gedichtbände publiziert. Im Frühjahr 2013 ist im Verlagshaus J. Frank sein fünftes, zweisprachiges Buch mit Übersetzungen von Odile Kennel erschienen. Der Band vereint neue Gedichte und eine Auswahl aus bereits Veröffentlichtem. »Körper: Ein Handbuch« ist ein Versuch einer breit gefassten poetischen Abhandlung über den Körper, in der Alltagswahrnehmung, Erotik, Politik, Sprache und Migration als Aspekte der Körperlichkeit behandelt werden. Denn innen ist außen, Privates ist politisch.

Im »Brief an Antinoos« richtet sich Hadrian an den verstorbenen Geliebten:

 

Pankrates von Alexandria verglich

die Lotusblume mit dir und nicht anders herum

gewann so meine Gunst

du warst der Parameter

meiner Symmetrie-Systeme

 

Die Blume mit dem schönen Jüngling zu vergleichen und nicht anders herum – diese manieristisch anmutende Umkehrung macht auf ein zentrales Muster der menschlichen Wahrnehmung und der Sprache aufmerksam, nämlich das Erfassen und die Aneignung der Außenwelt durch Analogien mit dem menschlichen Körper (man denke an »Nadelohr« oder »Bergfuß«). Domeneck rückt den Körper und das Konkrete in den Mittelpunkt seiner Poetik und spielt dabei gerne mit übertragenen und eigentlichen Bedeutungen. In »Von der Übersetzung als erotische Übung« heißt es: Knackig sind der Po und der Stil des »hübschen Dichters«, in seiner sinnlichen Arbeit steuert der Übersetzer auf den »letzten Punkt« zu und die Übersetzung ist »das Gör, das ich, gottverdammt, nicht gebären kann«.

Im ersten, programmatischen Gedicht des Bandes, »Hoch lebe die reine Poesie«, bedankt sich das lyrische Ich ironisch bei den »geliebten Vorfahren« seiner dichterischen Genealogie für die Reinheit der Sprache, die einen von lästigen Details befreit:

 

ob Amsel, Bussard oder Nachtigall

wir besingen heute

nur den Vogel

den abstrakten, auf dem Ast

des Baumes

den wir nicht benennen können.

 

Der Schritt zurück zum Konkreten verspricht es uns zu ersparen, »Bitterwurz statt Balsamkraut« zu pflücken. Und wenn schon Nationalität, Religion, Muttersprache keinen Halt mehr bieten – »There is nobody here but us Chicanos«, heißt es in einer Videoarbeit Domenecks – , ist die eigene Zunge/Sprache (beides heißt auf Portugiesisch língua) immerhin gut im Mund aufgehoben:

 

überrascht wie viel von der Welt

mir nicht gehört, wie

komisch (wieder

einmal) zu entdecken

dass Landwechsel nicht

Körperwechsel bedeutet

und Sprachwechsel

einhergeht mit der Produktion

des gleichen Speichels

 

Der Körper als Maßstab der entzauberten Welt erlaubt einen anderen, menschlicheren Blick auf Geschichte und Politik. »Es gab schon Kriege, die länger währten als du«, lautet der Geburtstagsgruß an einen Fünfundzwanzigjährigen. Und es wird statt großer Phrasen ein Katalog alltäglicher Situationen entworfen, in denen die Kommunistin Ísis Dias de Oliveira gerade hätte stecken können, wäre ihr Körper nicht während der Militärdiktatur spurlos verschwunden.

Die besten Gedichte des Bandes sind verspielt, ironisch, politisch. Doch eine derart rücksichtslose Einbeziehung des Privaten in die poetische Arbeit, wie sie von Domeneck betrieben wird, geht mit der Gefahr einher, im schlimmsten Fall in belanglose Selbstdarstellung umzukippen. Bei der Lektüre der weniger gelungenen Texte wusste die Rezensentin manchmal nicht wohin vor lauter Homosexualität, Kosmopolitismus und hippem Prenzlauer Berger Spleen. Der Verlag hätte gut daran getan, die Texte für dieses mit seinen über 200 Seiten zu dicke Band etwas kritischer auszuwählen.

Noch ein Wort zur Übersetzung. Die meisten Gedichte sind erzählend und folgen keiner strengen Form, deshalb funktionieren sie sehr gut auf Deutsch. Odile Kennel ist es wunderbar gelungen, im Deutschen eine Entsprechung für Domenecks Sprache zu finden, die von Zitaten aus der Weltliteratur und der Popkultur durchsetzt ist und Schwulenslang mit der Hochsprache verbindet. Der zweisprachige Leser wird sicher bedauern, dass das Original und die Übersetzung in zwei getrennte Blöcke aufgeteilt sind. Auf der anderen Seite wird dadurch gegenüber den Texten Raum für eine dritte Sprache geschaffen – Annemarie Ottens Zeichnungen. Darauf sind verfremdete, verformte Körper zu sehen, die mit anderen Körpern, aber auch Bügelbrettern und tropfenden Wasserhähnen verwachsen. Die Illustrationen treten in einen intensiven Dialog mit Gedichten, in welchen der Körper durch Aufnahme und Ausscheidung von Flüssigkeiten unterschiedlicher Art, »Tauschhandel mit Sauerstoff« und nicht zuletzt Leistungen der Imagination mit der Außenwelt untrennbar verbunden ist.

Vera Kurlenina 

Ricardo Domeneck: Körper. Ein Handbuch 

Ricardo Domeneck:
Körper.
Ein Handbuch.
Übersetzt und mit einem Nachwort von Odile Kennel
Zeichnungen von Annemarie Otten
Zweisprachig, 240 Seiten
Verlagshaus J. Frank 2013



Ricardo Domeneck,
1977 in Bebedouro, Bundesstaat São Paulo geboren, lebt seit 2002 als Dichter und Performance-Künstler in Berlin. Seine Gedichte erschienen in Anthologien in Deutschland, USA, Belgien, Spanien und Argentinien sowie in bisher 8 Gedichtbänden in portugiesischer und englischer Sprache.



Vera Kurlenina schrieb auf www.novacultura.de zuletzt über Ondjaki