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Auch ich würde lieber nicht davon reden …

Tagebuch eines Sturzes (Diário da Queda) von Michel Laub

Mein Großvater sprach nicht gern von früher. Was nicht verwunderlich ist, zumindest nicht, was das Wesentliche angeht: dass er Jude war, nach Brasilien kam in einem dieser vollgepferchten Schiffe, wie Vieh, für das die Geschichte zu Ende zu sein schien, mit zwanzig oder dreißig oder vierzig, das ist egal, und nichts übrig bleibt als eine Art von Erinnerung, die kommt und geht und ein schlimmeres Gefängnis sein kann, als das, in dem du gewesen bist.

Tagebuch eines Sturzes (Diário da Queda) ist der fünfte Roman von Michel Laub (inzwischen erschien sein sechster: »A maçã envenenada«), und der einzige, der (seinen) jüdischen Hintergrund thematisiert, was einige Rezensenten wohl dazu verleitete, in dem Buch eine Art Autobiographie seines Autors zu sehen.

Der Großvater des Erzählers überlebte Auschwitz, kam nach Brasilien und verfasste von da an ein Tagebuch, in dem er nichts von all dem festhielt, was er an Grauen erlebt hatte: Schreiben gegen die Erinnerung. Später bringt er sich vor den Augen seines Sohnes um. Dieser Sohn, Vater des Protagonisten, erkrankt im Alter an Alzheimer und versucht seinerseits mit einem Tagebuch dem Vergessen entgegenzuwirken. Der Erzähler selbst schreibt sich wie besessen und in akribisch durchnummerierten Listen seine eigene Last von der Seele, in deren Mittelpunkt weder Auschwitz steht, noch der Selbstmord des Großvaters oder das schwierige Verhältnis zu seinem Vater, sondern das eigene Versagen, die eigene Schuld. Und:

Ist es möglich, einen Überlebenden von Auschwitz zu hassen, wie es mein Vater getan hat? Ist es erlaubt, diesen vollkommenen Hass zu empfinden, ohne jemals der Versuchung zu erliegen, ihn wegen Auschwitz zu mildern, ohne sich schuldig zu fühlen, die eigenen Emotionen über so etwas wie die Erinnerung von Auschwitz zu stellen?

Die Schuld seines Lebens ist für den Erzähler, dass er sich mit dreizehn am Mobbing gegen einen Mitschüler beteiligte, dem einzigen Nichtjuden in seiner Schule, und ihn mit einem Dummejungenstreich fast umgebracht hätte. Eine Schuld, die ihn zum Alkoholiker macht, zum Schläger und Versager in zwischenmenschlichen Beziehungen. Dem sich selbst schuldig fühlen steht das Bewusstsein gegenüber, selbst Opfer zu sein, nicht der historischen Katastrophe, dem Sündenfall, der Verbrechen von Auschwitz, sondern all dessen, was sein Vater und sein Großvater ihm an emotonaler Last auf den Weg gaben. Doch hat das für einen jüdischen Jungen am Ende des 20. Jahrhunderts nicht trotzdem immer wieder mit Auschwitz zu tun?

Auch ich würde lieber nicht davon reden. Wenn die Welt etwas nicht braucht, so ist es, sich meine Ansichten zu diesem Thema anhören zu müssen. Das Kino hat sich schon damit beschäftigt. Bücher haben sich dessen angenommen. Zeitzeugen haben bereits Detail für Detail alles erzählt (…) Also käme es mir nicht eine Sekunde lang in den Sinn, all das zu wiederholen, wäre es nicht in gewisser Weise wichtig, um über meinen Großvater reden zu können, und in der Konsequenz auch über meinen Vater, und in der Konsequenz auch über mich.

Ein beunruhigendes, sehr berührendes Buch.

mk, 06.02.2014

Michel Laub auf dem »Blauen Sofa«

Online-Rezensionen:
Frankfurter Rundschau/Berliner Zeitung
Focus
Tópicos
Neue Osnabrücker Zeitung

booknereds
news.de

Hessischer Rundfunk
Deutschlandradio Kultur

http://www.perlentaucher.de/buch/michel-laub/tagebuch-eines-sturzes.html

Leseprobe
auf der Website des Klett-Cotta Verlags

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Michel Laub:
Tagebuch eines Sturzes
Übers.:Michael Kegler
176 Seiten,
Klett-Cotta 2013


Original:

Diário da Queda
Companhia das Letras, 2011

Tinta da China (Portugal) 2013
nominiert für den Prémio Literário Casino da Póvoa 2014


Weitere lieferbare Titel von Michel Laub:

Música Anterior
(Companhia das Letras, 2001)
Longe da Água
(Companhia das Letras, 2004)
O segundo Tempo
(Companhia das Letras, 2006)
O Gato diz Adeus
Companhia das Letras, 2009)
A maçã envenenada
(Companhia das Letras, 2013)


Weitere für den Prémio Literário Casino da Póvoa 2014 nominierte Titel:

A Instalação do Medo,
Rui Zink
(Teodolito
)

A Luz é Mais Antiga que o Amor,
Ricardo Menéndez Salmón
(Assírio & Alvim
)

A Maldição de Ondina,
António Cabrita
(Abysmo
)

A Sul. O Sombreiro,
Pepetela (Dom Quixote
)

A Vida no Céu,
José Eduardo Agualusa
(Quetzal
)

Caligrafia dos Sonhos,
Juan Marsé (Dom Quixote
)

Dentro de Ti Ver o Mar,
Inês Pedrosa
(Dom Quixote
)

Diário da Queda,
Michel Laub
(Tinta da China
)
- auf Deutsch: »Tagebuch eines Sturzes«, Klett-Cotta 2013

Metade Maior,
Julieta Monginho
(Editorial Estampa
)

O Filho de Mil Homens,
Valter Hugo Mãe (Alfaguara
)

O Retorno,
Dulce Maria Cardoso
(Tinta da China
)

Pai, Levanta-te, Vem Fazer-me um Fato de Canela,
Manuel da Silva Ramos
(A.23 Edições)

Quando o Diabo Reza,
Mário de Carvalho (Tinta da China
)

Um Piano Para Cavalos Altos,
Sandro William Junqueira
(Caminho
)

Uma Mentira Mil Vezes Repetida,
Manuel Jorge Marmelo (Quetzal
)