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10.09.2008

ASCHE DER ERINNERUNG: 

Amazonien bei Milton Hatoum

von Albert von Brunn
 

„Der Salon im Stadtpalais war nüchtern, wenige Möbel und andere Gegenstände. Ich entdeckte im Glasschrank, auch die Seiten waren verglast, Miniatursoldaten und winziges Kriegsgerät; neben dem Plattenspieler ein Regal mit Büchern und Schallplatten. An der Wand gegenüber das Foto einer Villa am Amazonas. Am reichsten geschmückt war die Decke: alter Stuck mit Darstellungen von Leiern, Harfen, Staffeleien und Pinseln […]. „Das hat Domenico de Angelis gemalt: Die Verherrlichung der schönen Künste in Amazonien. Eine Kopie der Deckenmalerei, die er für das Foyer unserer Oper angefertigt hat“(1). Staunend betrachtet der Erzähler Lavo das Haus seines Freundes Mundo, Überrest einer rauschenden Zeit. Der Roman folgt der Geschichte der beiden Freunde in den Jahren 1960 bis 1980 und zeichnet ein Bild der achtundsechziger-Generation in Brasilien, die sich in zwei Richtungen spaltete – Rebellen und Konformisten, vertreten durch Raimundo (Mundo) und Olavo (Lavo). Sie unterscheiden sich nicht nur durch ihre politischen Ansichten, sondern werden auch physisch getrennt. Während Lavo in Manaus bleibt und eine Juristenkarriere einschlägt, geht Mundo ins Exil nach Berlin und London. Auf Distanz unterhalten sie einen mehr oder minder fiktiven Dialog, der im Zusammenspiel mit den übrigen Personen ein Porträt der Sechziger Jahre in Brasilien ergibt. Unsicherheit und die Suche nach einer persönlichen Wahrheit bestimmen das Leben der beiden Freunde.

Manaus, Ende eines Paradieses?

           „Auf dem ersten Bild war eine männliche Gestalt in voller Größe abgebildet, graue Augen im ernsten Gesicht, noch ein junger Mann, in den Händen einen Hundewelpen, und im Hintergrund das Herrenhaus von Vila Amazônia mit Indianern, caboclos und Japanern, die am Flussufer arbeiteten. Inmitten der Arbeiter Mundo, der sie beobachtete und zeichnete. Auf den nächsten vier Bildern veränderten sich die Gestalten und die Landschaft, der Mann und das Tier wurden älter, nahmen seltsame Züge und groteske Formen an, bis sich ihr Bild ganz auflöste“(2). 

           Nach dem Tod seines Freundes steht Lavo vor dessen letztem Bild, das er in London gemalt hat. Wohl erkennt er in den Zügen des Mannes Jano, Mundos angeblichen Vater, im Hochzeitsanzug zusammen mit seinem Hund. Dabei erinnert er sich an den eleganten, stattlichen Herrn, den er stets gefürchtet hat, während Mundo ihm nur Hass und Verachtung entgegenbrachte: Jano, den die Zuckerkrankheit in kurzer Zeit um Jahre altern ließ, seine gestärkten Leinenhemden mit Perlmuttknöpfen, weißen langen Hosen und dem grauen Gürtel, Jano der Großgrundbesitzer und Freund der Militärs, Erinnerung an jene rauschende Epoche des Kautschukbooms, der aus dem verschlafenen Provinznest Manaus über Nacht eine Art Paris im Urwald gemacht hatte.

           Die Amazonashauptstadt, heute eine ausufernde Metropole mit anderthalb Millionen Einwohnern, liegt am Ufer des Rio Negro und war ursprünglich als Befestigung gegen die Spanier errichtet worden. Zweihundert Jahre dämmerte die Siedlung vor sich hin, bis der Kautschuk-Boom (1889-1920) sie aus dem Dornröschenschlaf riss: In wenigen Jahren stieg die Zahl der Bewohner von zehtausend auf fünfundsiebzigtausend. Eduardo Ribeiro, Gouverneur Amazoniens von 1892 bis 1896, war ein kleiner, dunkelhäutiger Diktator mit hochfliegenden Plänen: breite Boulevards wurden durch die Sümpfe gezogen und mit Kopfsteinpflaster aus Portugal befestigt. Elektrische Lampen ersetzten die Kerosinfunzeln der Vergangenheit. Aus den Regenwäldern und Malariasümpfen entstand eine der surrealsten Städte der Welt, ein Traum der Moderne mit Krankenhäusern, Kirchen, Banken, Bürotürmen und Markthallen. Aber der Gouverneur wollte mehr als Infrastruktur, und so flanierte die Crème der Gesellschaft zweimal wöchentlich bei drückender Hitze durch den Stadtpark, um vor dem Musikpavillon der Blaskapelle zu lauschen, bevor sie sich im Grand Hôtel International, dem „schönsten der Christenheit“, bei Eis und Champagner gütlich tat (3). Krönung dieses tropischen Traumes war die über dem Zentrum der Stadt thronende goldblaue Kuppel des Teatro Amazonas. Während das Eisengerüst aus Glasgow stammte, wurden die über sechzigtausend Ziegel für das Kuppeldach im Elsass gefertigt. Im Innern prangten venezianische Glaskandelaber, und im Foyer standen neben Säulen aus Carrara-Marmor Sessel aus Palisanderholz, die so schwer waren, dass zwei Männer sie kaum verschieben konnten (4). 

           Dieser Fieberschub der Moderne dauerte kurz und kam nur Wenigen zugute. Das landläufige Klischee vom Paris im Urwald wirkt aus heutiger Sicht reichlich übertrieben. Während Baron Haussmann die äußere Gestalt einer bereits stark industrialisierten Metropole veränderte, schuf Eduardo Ribeiro aus dem nichts eine moderne Stadt, deren Prosperität auf einem einzigen Rohstoff beruhte. Manaus war ein idealer Nährboden für Mythen aller Art. Gleich hinter der glitzernden Fassade begann der Urwald und hinter den eleganten Herrenhäusern erstreckten sich stinkende Slums, mit ihren Regenfässern, Pfützen und offenen Zisternen, kurzum idealen Brutstätten für Gelbfiebermücken und Parasiten aller Art, die jährlich über 300 Opfer forderten (5). 

           Jano personifiziert im Roman das Janusgesicht dieses Kautschukbooms: Traum und Zerfall der Moderne vereinen sich in seiner Person, seinem Haus und dem Bild, das Mundo von ihm malt. Die Aufmachung des tropischen Dandy – Leinenhose, Leinenhemd, Filzhut – sind zugleich Anknüpfung an die glorreiche Zeit der Stadt und Leichentuch: kurz vor seinem Tod erhält Jano ein Geschenk, ein Hemd aus irischem Leinen aus der Boutique Au Bon Marché. Aus Wut über seinen Sohn verbrennt Jano zusammen mit dessen Zeichnungen auch das Leinenhemd und stirbt an den Folgen seines Diabetes.

Exotik und Bildungsroman 

           „Beim Kind entsteht die Exotik zusammen mit dem Gefühl für die Außenwelt“, schreibt Victor Segalen im Essai sur l’exotisme (6) . „Zu Beginn ist alles exotisch, was man mit Händen nicht greifen kann. Sobald das Kind die Wiege verlässt, verlagert sich die Exotik an die Wände seines Zimmers und später in die weite Welt des Elternhauses. Wenn das Kind anfängt zu lesen, begreift es, dass es alles, was es liest, eines Tages selbst erleben kann. Das Spiel bleibt dasselbe, aber die Einstellung ändert sich. Dieses Gefühl dauert solange, bis das Kind Geschichte und Geographie aus Büchern lernen muss. Dann ist die Exotik zu Ende“. 

           Der Bildungsroman zeichnet sich in Lateinamerika dadurch aus, dass die nationale Identität mit der Entwicklung des Ichs ein Wechselspiel eingeht. Das Individuum wächst zusammen mit der Nation und durchläuft dieselben Krisen. Einerseits geht es darum, menschliche Werte wie Heldenmut, Tapferkeit und Opferbereitschaft zu entwickeln und andererseits, soziale Gerechtigkeit einzufordern. Persönliche Ziele wie Liebe, Ehre und Ehrgeiz sind nicht genug. Es gilt, Ausgeschlossene einzubeziehen, die bis anhin nicht Teil des nationalen Selbstverständnisses waren (7). 

           Im Roman Asche vom Amazonas gerät das traditionelle Rollenspiel aus den Fugen: erst auf dem Totenbett erfährt Mundo, dass Jano gar nicht sein Vater ist und zudem unfähig gewesen wäre, ihn zu zeugen. Jano ist der falsche Held in einer falschen Zeit: er träumt vom Prunk des Kautschukbooms, kleidet sich wie ein tropischer Dandy und lässt in seiner Farm, Vila Amazônia von japanischen Kulis und ihren Nachkommen Jute anpflanzen, obwohl dieser Rohstoff auf dem Weltmarkt keinen Absatz mehr findet. Der Roman erzählt die Geschichte der Dekonstruktion des tropischen Pater familias, dessen Gewaltausbrüche am eigenen Zerfall nichts mehr ändern können: er wird zum Spielball der Militärs und ihrer Lakaien. Sein Haus zerfällt, der tropische Traum ist ausgeträumt. In dem verzweifelten Versuch, seine schwindende Autorität aufrechtzuerhalten, steckt er Mundo in eine Militärakademie, wo dieser auf Gehorsam, Mut und Arbeit gedrillt werden soll, und treibt ihn damit in den Tod. Alícia, die Mutter, kann die Tragödie nicht verhindern. Hin und her gerissen zwischen der traditionellen Rolle der Gattin und der inzestuösen Liebe zu ihrem Sohn schafft sie es nicht, dem künstlerischen Talent Mundos zum Durchbruch zu verhelfen. Als Mundo nach Europa fliegt, um sich in der aufrührerischen Atmosphäre des Swinging London und der Goldenen Sechziger in Berlin etwas Luft zu verschaffen, ist es bereits zu spät. Eine tückische Tropenkrankheit hat sich in seinem Körper eingenistet und rafft ihn dahin. 

Joseph Conrad und der postmoderne Odysseus 

           „Bevor ich mit Mundo im Gymnasium Pedro II die Schulbank teilte, war ich ihm einmal auf der Praça São Sebastião begegnet: dünn, den Kopf fast kahlgeschoren, saß er neben einem Hausmädchen auf den in schwarzen und weißen Wellen angeordneten Steinen und schaute auf das Bronzeschiff, das den Kontinent Europa darstellt; er betrachtete das Schiff auf dem Denkmal und zeichnete mit erstaunter Miene, biss sich dabei auf die Lippen und bewegte den Kopf in flinkem Auf und Ab wie ein Vogel“, erinnert sich Lavo (8). „Ich blieb stehen und sah mir die Zeichnung an: ein schiefes, merkwürdiges Boot auf einem dunklen Meer, vielleicht dem Rio Negro oder dem Amazonas“. 

           Lavo bleibt in Manaus, Mundo wird die Heimat verlassen und niemals zurückkehren. Eine postmoderne Odyssee? Für uns Europäer beschränken sich die Reisen des listenreichen Seefahrers aus Ithaka aufs Mittelmeer. Ithaka, der heimische Herd, steht für das Abbild der Identität, das Haus, in dessen Innern das unverrückbare Bett und Penelope auf den Seefahrer warten. Was bleibt, wenn wir Odysseus Penelope wegnehmen, seinen Anker in Raum und Zeit? Nur die Irrfahrt. Wie den Untergang der Titanic schildert Dante den Schiffbruch des Odysseus auf dem Weg nach Amerika, jenseits der Säulen des Herkules. Seine letzte Reise führt ihn in das Land ohne Schiffe und ohne Salz, in das er mit dem Ruder auf dem Rücken reist. Er wird damit zum Ursymbol aller maritimen Zivilisationen (9). Joseph Conrad hat in Tremolino (10) dieses Bild wieder aufgegriffen: In Conrads Erzählung bricht Dominic Cervoni zu seiner letzten Reise durch das Mittelmeer auf. Von seinem Neffen verraten, ist der Kapitän gezwungen, sein eigenes Schiff, die Tremolino, vor der spanischen Küste zu versenken. Mit einem Ruder auf dem Rücken zieht er in den Tod. Ein ähnliches Bild finden wir bei Milton Hatoum: „Auf der einen Seite eine Reklame, auf der anderen eine Reportage mit einem Foto von einem Indianer, der mit einer Federhaube auf dem Kopf vor einem Tunnel in Copacabana stand; Gesicht und Brust schmal, die hervorquellenden glasigen Augen gen Himmel gerichtet. Er hielt ein Paddel in der Hand, man hatte ihn verhaftet, weil er die Autofahrer und Insassen bedroht hatte[…]. Ein ausgemergelter Krieger, der sich nach Rio de Janeiro verlaufen hatte. Der protestierende Indianer sagte, er sei ein Sohn des Mondes und stehe dort nackt vor der Tunneleinfahrt, um den Untergang des Militärregimes zu feiern. Mundo?“(11). Mundo zieht mit seiner Mutter nach Rio de Janeiro, um am Strand von Copacabana zu sterben: „Umherirren war mir nicht bestimmt, aber eine Rückkehr zum Ort meiner Herkunft war ausgeschlossen“(12), schreibt er seinem Freund Lavo, den er nie wieder sehen wird. In Mundo vereinigen sich, wie bei Dominic Cervoni, die Helden Homers und Dantes zum postmodernen Odysseus, der mit einem Ruder auf den Rücken in das Grenzland ohne Schiffe reist, jenseits der Schattenlinie, die die Jugend vom Mannesalter und die Lebenden von den Toten trennt.

           Milton Hatoum (*1952) entstammt einer libanesischen Immigrantenfamilie aus Manaus. Nach dem Studium der Architektur in São Paulo arbeitete er für die Feuilleton-Redaktion der Zeitschrift Isto É, studierte vergleichende Literaturwissenschaft und spanisch-amerikanische Literatur in São Paulo. Von 1979 bis 1983 lebte er in Frankreich und Spanien, bevor er 1984 als Dozent für französische Literatur nach Manaus zurückkehrte. 1989 erschien sein erster Roman, Relato de um certo Oriente (dt. Brief aus Manaus. Frankfurt/M., 2002) und im Jahr 2000 Dois irmãos (dt. Zwei Brüder. Frankfurt/M, 2002), für die er zweimal den angesehenen Jabuti-Preis erhielt. 2005 folgte der dritte Roman, Cinzas do Norte, der in der ausgezeichneten Übersetzung von Karin von Schweder-Schreiner zur Buchmesse 2008 auf Deutsch erscheint. Es ist die Geschichte der Achtundsechziger-Generation in Brasilien: Üppige Festmähler, schwere Gerüche und tropische Vegetation weichen einem einheitlichen Grau. Zurück bleiben nur Ruinen, der zerstörte Garten der Kindheit und die Asche der Erinnerung.