angola . brasil . cabo verde . guiné-bissau . moçambique . portugal . são tomé e príncipe . timor lorosae

Moacyr Scliar (1937-2011) :

Abschied von einem Freund

 

Als ich heute Morgen die traurige Nachricht vom Tod des brasilianischen Schriftstellers Moacyr Scliar erfuhr, setzte sich in meinem Kopf ein Karussell der Erinnerungen in Gang. Wann war ich ihm zum ersten Mal begegnet? 1988, in Eichstätt. Damals schrieb ich am meinem Buch über die seltsame Nation des Moacyr Scliar, und Ray-Güde Mertin rief mich an, ob ich nicht zu Moacyrs Vortrag in Eichstätt kommen wollte. Also setzte ich mich in den Zug, rasselte quer durchs Allgäu und nach Bayern, in jenes idyllische Städtchen in der Nähe von Regensburg, wo Moacyr Scliar und Luís Fernando Veríssimo Vorträge über die Rolle des brasilianischen Schriftstellers in der Zeit nach der Militärdiktatur hielten. Anschließend gingen wir zusammen essen, und Moacyr erzählte von seinem Schwiegervater, einem Emigranten aus München. Er war in ganz Porto Alegre dafür bekannt, dass er als Einziger einen Tennisplatz mit Kirschbaum besaß. Klaus Oliven – so sein Name – spielte zwar kein Tennis, wollte aber hinter den Nachbarn nicht zurückstehen. Da stürzte seine Haushälterin in den Garten: Seu Klaus, Sie können doch nicht den Kirschbaum fällen. Also blieb der Kirschbaum stehen – mitten auf dem Tennisplatz.

Unsere zweite Begegnung war in Oxford, 1996, als der internationale Lusitanistenkongress in der britischen Universitätsstadt abgehalten wurde. Wir logierten im historischen Christ Church College im Zentrum, und Moacyr hielt das Eingangsreferat: Was macht ein jüdischer guri aus Porto Alegre an so einem Ort? fing er an, und erzählte die Geschichte eines jungen Arztes aus dem Rio Grande do Sul, der während seiner Studentenzeit angefangen hatte zu schreiben, dann im Gesundheitsdienst arbeitete, der ihm feste Arbeitszeiten garantierte. Unsere letzte Begegnung war im Juli 1999, mitten im Winter in Porto Alegre. Ein Freund, der brasilianische Gadamer-Spezialist Luís Rohden, hatte mich in seinem Auto mitgenommen und so standen wir vor seinem Haus und drückten auf die Klingel. Er empfing uns freundlich mit Kaffee, kleinen Häppchen und seinem neuesten Projekt, einer Art literarischen Medizingeschichte, aus der später Saturno nos trópicos werden sollte, die Geschichte der Melancholie im Brasilien der Kolonialzeit.

Nun ist der Zentaur im Garten gestorben, der jüdische Schriftsteller aus Porto Alegre und mit ihm eines der grossen Themen der Menschheitsgeschichte, die er wie kein anderer zu schildern verstand: Medizin und Macht. Wir werden ihn sehr vermissen.


Albert von Brunn,
Zürich, den 28.02.2011

 


Albert von Brunn
ist Literaturwissenschaftler und
Verfasser das Buches

Die seltsame Nation des Moacyr Scliar:
jüdisches Epos in Brasilien (TFM, 1990)