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Manuel Jorge Marmelo:
Das Gespenst von Johanna Adler

Diese Glosse nimmt ihren Anfang in einem Zimmer in einem kleinen Hotel in Frankfurt. Die Wände sind weiß und (fast) leer. Vor dem einzigen Fenster, durch das traurig und schön das Novemberlicht fällt, steht ein hölzerner Schreibtisch. Ich wünschte, ich hätte die Zeit, dort zu bleiben und zu schreiben, während es draußen regnete, doch ich musste das Zimmer fast eilig verlassen, ohne besonders auf die Sensoren an den Wänden zu achten, die der Künstler Kevin Slavin dort im Zimmer 42 angebracht hat, als Messgeräte der metaphorischen Tonspur all der Geschichten, die sich in Hotelzimmern abspielen. Von meiner stillen Anwesenheit allerdings zeigten sich die Zeiger vollkommen unberührt. Schlimmer noch, sie waren auch taub gegenüber dem Widerhall der Vergangenheit und den Geistern, die jenes bürgerliche Stadtviertel Bockenheim bevölkern. 

Die kleine Anlage an der Kreuzung Robert-Meyer- / Emil-Sulzbach-Straße ist von abgestorbenen Blättern bedeckt, rund um den Glaskasten zum Gedenken an Theodor Adorno. Trotzdem ist deutlich das Labyrinth zu erkennen, von Vadim Zakharov angelegt, um das aquariumartige Schreibzimmer herum, das anlässlich des einhundertsten Geburtstags des deutschen Philosophen erdacht wurde: ein massiver Schreibtisch, ein Stuhl, eine Tischlampe mit Schirm, zwei Seiten aus Negative Dialektik, ein Metronom. Das Naheliegende kam mir in den Sinn, jener Satz von Adorno über die Unmöglichkeit und dass es barbarisch sei, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, doch ebenso und dennoch der an dieser Stelle so klare Beweis, dass Schönheit jeden Holocaust übersteht und uns begegnen kann in Gestalt einer herbstlichen Anlage oder eines strahlenden Verses, den jemand genau dort sitzend verfassen könnte.

Etwas weiter, bereits im Kettenhofweg, stolperte ich über den bronzenen Pflasterstein im Bürgersteig vor dem Haus, in dem Johanna Adler gelebt hat, die jüdische Sängerin. Sie wurde 1940 gezwungen ihr schönes Haus zu verlassen, vielleicht kaum bekleidet auf die Straße gestoßen. 1942 wurde sie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und starb wenige Monate darauf in Treblinka, am 26. September, 74 Jahre alt. Johanna Adler war Sopranistin und hatte zur Beisetzung von Clara Schumann gesungen, der Pianistin und Ehefrau des berühmten Komponisten, und ich halte einen Augenblick inne, um sie mir vorzustellen wie einen Geist, der noch immer das Requiem von Schumann singt, während die herbstlichen Blätter noch einen Moment in der Luft schweben, bevor sie zu Boden fallen. Ich sehe all diese Bilder des Holocaust, des ganzen Entsetzens der Welt, während die Erinnerung an Johanna Adler dieses Requiem aeternam wiederholt, das ich ebenso nicht verstehe, wie die Zeiger der Dezibelmeter im Zimmer 42 nicht in der Lage sein werden, die Klangspur von soviel Geschichte zu messen.


Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler
mit freundlicher Genehmigung des Autors
(veröffentlicht am 18.12.2015)

Manuel Jorge Marmelo, 1971 geboren, ist Schriftsteller und Journalist und hielt sich zur Präsentation seines Romans Eine tausendmal wiederholte Lüge (Übers.: Michael Kegler, A1 Verlag 2015) für ein paar Stunden in Frankfurt auf.


»O fantasma de Johanna Adler« erschien am 29. November im Notícias Magazine.



in der Rubrik literatrip veröffentlichten wir zuletzt einen Text von Luiz Ruffato.