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Luiz Ruffato: für B. und F., die verstehen, was ich sage Meia-Noite ist ein Straßenköter, tiefschwarz, der an der Ecke – fast hätte ich „wohnt“ gesagt, aber er hat ja kein Dach über dem Kopf – lebt, auf dem Bürgersteig, mit zwei Obdachlosen, die auf diesem Abschnitt der Straße vom Betrieb eines großen Anwaltsbüros über die Runden kommen – als Autowäscher. Manchmal liegt Meia-Noite an der Leine, meist läuft er frei herum. Manchmal hat er zu essen, manchmal wird er gewaschen und manchmal gestreichelt. In dieser armseligen Situation ist er zum Philosophen geworden. Aber zu einem hinterfragenden, nachdenklichen Philosophen. Gewissheiten sind ihm unbekannt.
Vor etwa zwei Wochen bekam Meia-Noite einen Gefährten: Pirata, ein junger Hund, der, wäre er nicht von dem obdachlosen Paar adoptiert worden, immer noch durch die Venen und Arterien der Stadt streifen würde, in Müllsäcken wühlen, sich vor Fußtritten in Sicherheit bringen, vor den Stoßstangen und Reifen der Autos, gejagt von den Menschen und seinen eigenen Schicksalsgenossen. Nun betrachtet er sich, wenn auch schüchtern, bereits als ein glückliches Mitglied einer Familie. Meia-Noite hat als gutes Vorbild die Aufgabe übernommen, den neuen Freund einzuweisen. Morgens, während er kurz vor Sonnenaufgang noch über den unruhigen Schlaf seiner Herrchen wacht, weiht er Pirata in seine Zweifel ein.
Meia-Noite: »Verstehe ich auch nicht, Pirata. Es gibt Hunde, die leben in riesigen Häusern, bekommen nahrhaftes Essen, haben Angestellte, die mit ihnen spazieren gehen, kommen in Kliniken, wo man sie wäscht, bürstet, parfümiert, untersucht. Wenn sie krank werden, bringt man sie zum Tierarzt. Wenn es sein muss, bekommen sie einen Trainer. Solange sie leben, kümmert man sich um sie. Wenn sie sterben, werden sie von ihren Besitzern beweint, ihre Namen bleiben ein Teil der Familiengeschichte. Sie werden geachtet, beneidet, bewundert und von ihren Menschen als reinrassig bezeichnet, als stammten wir nicht alle vom selben ersten Hund ab …« Pirata: »War das denn immer schon so, Meia-Noite?« Meia-Noite: »Ich glaube nicht, guter Freund, glaube ich nicht. Am Anfang, als Mensch und Hund noch zusammen gehörten, waren wir noch aufeinander angewiesen, um als Arten zu überleben. Doch je mehr einige mit Gewalt und mit Macht Reichtum anhäuften, begannen wir auseinanderzustreben. Wie ein Anhängsel der Geschichte des Menschen wurde unsere zu einer der getrennten Wege, der Missverständnisse und Missverhältnisse …« Pirata: »Wie bitte?« Meia-Noite: »Wir haben zwar eigene Überzeugungen, doch im Zusammenleben nehmen wir die Eigenschaften unserer Besitzer an. Es gibt friedliche Hunde und verbitterte, glückliche und wütende, selbstlose, egoistische, freundliche und unsympathische, tolerante und unerträgliche, zahme, bösartige, gute und schlechte, das alles. Doch das sind alles Eigenschaften der Menschen. Wir selbst machen keine Unterschiede nach Fell, Bellen, der Art unserer Halsbänder, Bekleidung, Accessoires. Für uns ist ein Hund ein Hund. Vorurteile, die wir leider auch übernehmen, verschwinden in dem Augenblick, wo man uns alleine lässt, mit unserem Geruch, denn dann erkennen wir im Gegenüber sofort den gemeinsamen Vorfahren und das Gefühl von Friede und Freude von damals, als wir noch im Einklang mit dem Universum lebten.« Pirata: »Aha, also das ist dann Glück?« Meia-Noite: »Ich weiß nicht, ob es es Glück ist … Dem Glück am nächsten kommt vielleicht einer jener seltenen Augenblicke, in denen wir im vollen Bewusstsein unserer eigenen Unwichtigkeit zu Geschwistern der Wesen und Dinge werden. Wir brauchen fast nichts, um zu überleben, Pirata, einen Teller essen, ein Schälchen Wasser, einen Ort, an dem unser Körper sich ausruhen kann … Aber Leben ist mehr als nur Überleben: Unseren Körper haben wir nur ein einziges Mal, also auch eine Pflicht, jeden Tag etwas dafür zu tun, dass der Raum, der uns umgibt, etwas freundlicher wird.« Pirata: »Und gelingt uns das, Meia-Noite?« Der philosophische Hund seufzte. Der Morgen erwachte mit dem Zwitschern der Vögel, dem Brüllen der Motoren der ersten Autos. Die zwei Obdachlosen räkelten sich. Erst da bemerkten die Hunde auch mich. Wie ich da stand. Langsam ging ich über die Straße zum gegenüberliegenden Bürgersteig, langsam genug, um noch hören zu können, wie Meia-Noite erwiderte: »Verfolge die Liebe, Pirata, verfolge die Liebe«. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler |
Luiz Ruffato, Geb. 1961 in Cataguases, ist einer der bekanntesten Gegenwartsautoren Brasiliens. Auf Deutsch liegen vor: Foto: © Sofia Helfrich, z.Zt. im Europäischen Freiwilligenjahr bei Louzanimales, Portugal in der Rubrik literatrip veröffentlichten wir zuletzt einen Text von Tailor Diniz, übersetzt von Angela Wodtke |
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