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Das trockene Ufer der Stadt
Milton Hatoum

 

Die Stimme des Mannes erinnerte an einen Morgengesang. Es war ein überraschendes Moment im Licht der Morgensonne, als die Kindheit begann: ein Fluss, der ins Nirgendwo führte, Gärten alter Herrenhäuser, baumbestandene Plätze, die der Stadt Schatten spendeten, ein riesiger Hafen – all dies milderte die Abgeschiedenheit und unsere Einsamkeit am Äquator.

Der Mann schleppte eine schwere Platte, sein Gesicht verschwand hinter einem Wald von Zweigen und Früchten, die von den Bäumen eines Gartens oder aus dem Urwald stammten, der uns umgab. Ein Baum-Mensch, ein Urwaldwesen mitten in der Stadt.

Wie weit entfernt und doch zum Greifen nah war der Urwald für uns. In meiner Erinnerung war dieser Straßenverkäufer ein Faun aus Manaus. Heute stelle ich ihn mir wie eine der phantastischen Figuren Arcimboldos vor: ein Mischling, der in prekärem Gleichgewicht über steingepflasterte Strassen wankte, ein hängender Obstgarten über einem unsichtbaren Kopf, eine Stimme, die einen Singsang von sich gab, der mich faszinierte, wie die Schlange vom Ton einer Flöte verzaubert wird. Kein Anflug von Wut oder Verzweiflung, nur die Melodie eines bescheidenen Menschen, der leben will, dessen Überleben von seiner Stimme abhängt. Ich rannte auf den Balkon des Wohnzimmers und erblickte den Baum-Menschen voller Früchte und hörte die Worte taperebá, sorva, tucumã, graviola, jatobá, cupuaçu, bacaba, ingá: Wörter und Laute, die ich immer wieder zu Hören bekam, wie weit ich auch wegging, um anderswo zu leben.

Als er in Lima auftauchte, dachte ich an den weiten Weg, den er bis zum Pazifik zurückgelegt hatte, und als ich meine Hand ausstreckte, um eine Frucht zu ergreifen, lachte er, bückte sich und bot mir den ganzen Obstgarten an. Da erwachte ich an einem kalten Morgen des Jahres 1990 und dachte an den Traum vom Baum-Menschen am Strand von Callao.

In Tat und Wahrheit – in dem Teil des Lebens, das wir Wirklichkeit nennen – tauchte er immer dann auf, wenn ich nach Manaus zurück kam. Irgendwie kam er mir gealtert vor, schwerfälliger oder buckliger. Doch immer flötete seine Stimme die Namen von Früchten und seine Stimme sprach zu mir: wie geht’s, Bruder? und bot mir eine Guanabara-Frucht an, ohne Geld dafür zu verlangen, als wäre ich noch immer der kleine Junge auf der Terrasse meines Elternhauses in der Joaquim Nabuco-Straße und er ein Großvater aus dem Urwald.

Nichts wusste ich von dem Mann, nicht einmal seinen Namen. Der Baum-Mensch spazierte durch die Strassen der Stadt und die Jahre meines Lebens und versuchte hartnäckig, mit seinem Obst-Kopf und seinen Füßen wie Luftwurzeln zu überleben: die Früchte hingen an grünen Blättern, als ob ein Stück Amazoniens zwischen Autos, Lastwagen und Autobussen schwebte, bis zu dem Tag, als er, der Baum-Mensch, sich in eine Art Stillleben der Stadt verwandelte, die vom Fortschritt zerstört wurde oder sich zerstören ließ, denn der Fortschritt war nur eine hässliche Karikatur.

Wie kann man seine eigene Existenzgrundlage verlieren?

Nie mehr wirst Du den flötenden Singsang vernehmen, den Baum des Lebens sehen, die Spuren der Kindheit wiederfinden. Jener Baum und sein Stamm schwanden dahin, die Härte der Stadt tilgte den Faun aus unserer Mitte, alles wurde gigantisch und formlos.

Die Zeit zehrt uns langsam auf. Der Baum-Mensch verlor seine Blätter und Äste, den Saft und die Kräfte. Die einst glänzenden Früchte verloren ihren Glanz und ihre Schönheit, irgendein Schädling ruinierte den Baum. Die Sonne versengte Straßen und Trottoirs, der uns umgebende Urwald wurde zu einem Chaos von Holzhütten und Pfahlbausiedlungen, die kleinen Wasserstraßen trockneten aus.

Vor zwei Jahren habe ich den Baum-Menschen wiedergesehen und jetzt habe ich ihn aus den Augen verloren.

Wo mögen seine nackten Füße geblieben sein, sein Turban aus billigem Stoff, seine weiche Flötenstimme? Verschwunden sind der süße Duft der Sapoti-Pflaume und der Geschmack des bläulichen Malakkaapfels, dessen Samen irgendein Portugiese der Algarve aus Indien mitbrachte und in Amazonien einpflanzte. Und, ohne es zu wollen, führt uns der Zufall ins Herz der Wirklichkeit.

Ich verließ den inzwischen ausgetrockneten Wasserlauf des igarapé, ging an den ärmlichen, Pfahlbauten vorbei, die durch hässliche Häuschen ersetzt worden waren - keine Balkone, lichtlose Bretterwände, nur hie und da von kleinen Fensterchen durchbrochen. Ich ging über ungepflasterte Wege, als ich plötzlich eine Platte vor mir sah. Kleine, blasse Früchte lagen auf dem verfaulten Brett. Der Mann saß neben seinem entlaubten Baum. Schmutzig, den Blick auf den Boden gerichtet. Ich wählte eine Frucht, und diesmal bezahlte ich dafür.

Ob er sich noch an das Kind erinnerte, das ihn bewunderte wie einen Zauberer? Ich erwartete ein Zeichen, irgendeine Reaktion, aber sein Blick war leer. Traurig und ohne Stimme brütete er in der Tropenhitze vor sich hin, ein Überlebender, der am trockenen Ufer meiner Stadt auf den Tod wartete.

 

 

 

Übersetzt von
Albert von Brunn
mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Das Original erschien in der
Revista da Faculdade de Filosofia, Letras e Ciências Humanas (FFLCH) der Universidade de São Paulo (USP):
http://www.fflch.usp.br

Albert von Brunn
ist Autor der Monographie
Milton Hatoum zwischen Orient und Amazonas (TFM 2009)
auf novacultura schrieb er zuletzt über
360° - inventário astrológico de Caio Fernando Abreu

Von Milton Hatoum ist in deutscher Übersetzung von Karin von Schweder-Schreiner lieferbar:
Asche vom Amazonas, Suhrkamp 2008
Brief aus Manaus, Suhrkamp 2002
Zwei Brüder, Suhrkamp 2002