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Tailor Diniz:
Ein Geheimnis in der Rue de la Huchette

übersetzt von Angela Wodtke

Als wir die Wohnung betraten, bemerkten wir, dass kein Licht brannte und vor einem roten Sofa ein Fernseher lief. Auf dem Esstisch erblickte ich eine fast leere Whiskyflasche, zwei niedrige Gläser mit Getränkeresten, zwei weiße Servietten, eine davon mit Lippenstiftspuren, und unter der Flasche ein fünfseitiges Manuskript. Die Schrift war perfekt, die Linienführung makellos, eine schöne und präzise Arbeit, wie sie wohl nur von einem professionellen Kalligraphen angefertigt werden kann. Auf den ersten Blick schien es sich um eine Erzählung zu handeln, die jemand vom Fenster der anderen Straßenseite aus mit Blick von außen nach innen geschrieben hatte. Ich begann zu lesen, während meine Kollegen die Zimmer, die Küche und die übrigen Räume der Wohnung inspizierten.

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Von dort drüben sind nur Spuren von Schatten und Umrissen an den Wänden zu erkennen, als würde sich jemand an einem verborgenen Ort im Gegenlicht einer ebenfalls verborgenen Lampe bewegen. Gelegentlich ist eine leichte Veränderung in der Tönung des Lichts wahrzunehmen, wenn die Farben des Videos im Fernseher, der die ganze Nacht eingeschaltet ist, sich verändern. Auf dem Esstisch ist nur eine volle Whiskyflasche sichtbar, daneben zwei leere Gläser. Sonst ist dort drinnen keine Bewegung zu sehen.

In die Wohnung direkt darunter kann man durch zwei geöffnete Fenster hineinsehen. Der Fußboden ist mit Stapeln von Gegenständen übersäht, Schallplatten, ein alter Plattenspieler, ein Paar Stiefel, Kleidung, zusammengerollte Teppiche, ein an die Wand gelehnter Fahrradreifen, ein Stummer Diener mit einer Suppenterrine aus Porzellan darauf, ein mit Büchern bedeckter robuster Holztisch. Am Kopfende dieses Tisches fällt ein Glaskasten ohne Deckel ins Auge, bis oben hin angefüllt mit alten Uhren aller Art, Armbanduhren, Wanduhren, Weckern, großen und kleinen.

Es ist nur schwer vorstellbar, dass jemand hier wohnen kann, inmitten dieses heillosen Chaos, in dem der Rückzug aus dem Leben nicht einmal mehr Platz lässt, um auch nur einen Fuß aufzusetzen. Der Mann, der schreibt, denkt dies, bis zu seiner Überraschung die Fiktion, die er über die Unbewohnbarkeit dieses absurden Ortes zu erschaffen versucht, von der Wirklichkeit widerlegt wird. Ein Paar erscheint auf der Bildfläche; sie vorneweg, er angesichts der Schwierigkeit, nicht hinzufallen oder das Gleichgewicht zu verlieren, in geringem, aber vorsichtigem Abstand dahinter. Er nimmt ein paar Bücher vom Tisch, legt sie auf den Boden zwischen zwei zusammengerollte Teppiche. Sie stellt dort, wo er zwischen den Büchern Platz geschaffen hat, eine Suppenterrine auf eine Serviette. Anschließend erscheint ein alter Mann, der sich nur mühsam fortbewegt, und setzt sich an den Tisch. Er hat das Besteck und einen kleinen Teller mit Essen dabei. Sobald er sitzt, springt eine Katze auf den Tisch und beginnt von dem kleinen Teller zu fressen.

Über dem Tisch des Mannes, der schreibt, ist eine Uhr, und er macht sich klar, dass fast vierundzwanzig Stunden seit der Begebenheit mit der Frau vom Dachboden über der Wohnung, in der der Fernseher die ganze Nacht läuft, vergangen sind. Er schreibt mit Bedacht wie ein Künstler, der einen Kunstgegenstand gestaltet:

„Man kann sagen, der Fall begann, als ich ein klirrendes Geräusch hörte, verursacht durch etwas, das herunterfiel, eine Flasche, die auf dem Boden zerschellte, und ich ging zum Fenster. Ich konnte nicht entdecken, was es war, aber als ich auch in die Wohnung unten rechts blickte, wurde ich auf eine Frau mit sehr spärlichen, schlohweißen offenen Haaren aufmerksam, sie war fast kahl, die wenigen dünnen Strähnen reichten ihr bis auf die Schultern. Sie hielt einen Teebecher in der Hand, und hinter ihr stand ein jüngerer Mann in T-Shirt und Kapuzenjacke, der sein Missfallen darüber, dass sie das Fenster geöffnet hatte und die Kälte dort eindrang, nicht verhehlte. Ich erinnere mich genau, dass ich, in dem Augenblick, als ich sein verärgertes Gesicht sah, nach oben auf eine Fenstertür hinter einem winzigen Balkon mit schmiedeeisernem Geländer schaute. Dort befand sich ein ausgebauter Dachboden mit Balkontür, durch die ich ein Waschbecken mit einem Spiegel darüber, ein Stück von einem Wasserboiler, die Hälfte der Wohnungstür, eine halbe Mikrowelle, einen kleinen offenen Wandschrank mit Wasserflaschen und einer Saftpackung darin sehen konnte. Vor dem Spiegel stand eine attraktive junge Frau, wohl nicht älter als fünfundzwanzig Jahre. Sie wischte sich mit einem feuchten Wattebausch über das Gesicht, die Wimpern und unter dem Kinn entlang. Dafür brauchte sie etwa eine Viertelstunde, dann verschwand sie. Da sie sehr lange weg blieb und ich spürte, dass etwas geschehen würde, machte ich das Licht aus und stellte einen Stuhl vor das Fenster. Unten beendeten der Mann und die Katze ihre Mahlzeit, standen auf und ich konnte sie nicht mehr sehen. Die fast kahle Frau und der Mann in der Kapuzenjacke sprachen laut, als stritten sie über irgendetwas. In der Dachwohnung der jungen Frau brannte weiter das Licht, doch nirgends eine Bewegung oder ein Schatten, nur die zuvor aufgezählten Gegenstände an ihrem Platz. Als ich den Blick nach unten wandte, hatte ich den Eindruck, dass eine andere Katze genau in dem Moment, als jemand eine Stereoanlage anstellte, auf eine Kleiderkiste sprang. Die Frau kehrte vor den Spiegel über dem Waschbecken zurück. Sie trug ein weißes T-Shirt, die Gürtelschnalle ihrer Jeans war offen und hing auf ihre Oberschenkel herab. Sie tanzte mit erhobenen Armen in kreisförmigen Bewegungen, so dass ich glaubte, die Musik aus der Stereoanlage käme von dort. Sie öffnete die Fenster der Balkontür, sah hinunter und verschwand wieder. Innerhalb von Sekunden sah ich ein erleuchtetes Rechteck an der Wand, dann einen Schatten auf dem offenen Wandschrank, dort, wo die Saftpackung stand. Eine weitere Lampe war in einem anderen Zimmer eingeschaltet worden, daher der Schatten an der Wand. Der Mann und die fast kahle Frau hatten aufgehört zu streiten, und die Musik und die Hotelgäste, die die Treppe zur letzten Etage hinaufstiegen, die der Aufzug nicht erreichte, waren die einzigen Lebenszeichen ringsum.

Als zwanzig Minuten vergangen waren, wie der Mann, der schreibt, sich auf der Uhr vergewisserte, schwebte, schwach sichtbar im direkten Licht einer verborgenen Lampe, eine zarte Dampfwolke von der Wand gegenüber dem Waschbecken heran. Die Wolke breitete sich aus und löste sich sogleich in der durch die Balkontür eindringenden Luft auf, die die Frau offen gelassen hatte. Er öffnete einen Flügel seines Fensters und sah sich um, soweit sein Blickradius es ihm erlaubte. Er wollte nachsehen, ob da vielleicht noch ein anderer Neugieriger war, der die Umgebung und die weiteren Bewegungen der Frau beobachtete. In diesem Moment roch er, wie er in seinem Text registrierte, einen leichten Lavendelduft von einem Parfum, einem Shampoo, kombiniert mit dem Dampf der heißen Dusche, „ ein Geruch, der sich mit dem Vanillearoma frisch-gebackener Croissants vermischte, der die Stadt ab dem frühen Morgen überflutet.“

Bald darauf kehrte sie mit nassen Haaren zurück, einen weißen Föhn in der Hand, den sie in eine Steckdose neben dem Spiegel steckte. Sie föhnte sich die Haare, betrachtete sie zufrieden, legte sie in die eine und die andere Richtung, ging mehrmals mit ihrem Gesicht ganz nah an den Spiegel heran, von vorn, von der Seite, bewegte die Lippen, zog den Föhn aus der Steckdose und verschwand. Ab diesem Zeitpunkt hätte der Mann, der schreibt, schlafen gehen können, aber er war beunruhigt und wartete. Während er wartete, begann er sich auszumalen, aus welchem Land sie wohl käme, und er entwickelte eine These: Sie musste aus dem Norden sein, ihrer Haut - die keine Spur von Sonnenbräune aufwies - und ihrer Haarfarbe nach zu urteilen. Zudem war Herbst, es war kalt in der Stadt, er hielt sich im warmen Zimmer auf, doch sie tat alles bei offener Balkontür.

Nach einigen Minuten, diesmal sah er nicht auf die Uhr, kam sie wieder vor den Spiegel zurück. Sie hatte sich angezogen, trug einen roten Rollkragenpullover, eine sehr enge Jeans und hochhackige Stiefel. Sie schminkte sich sorgfältig und mit allen Details, die eine Frau beachtet, wenn sie noch attraktiver sein will, als sie schon ist. Er beobachtete sie, bis er sah, wie sie die Wohnungstür öffnete – dann schrieb er weiter:

Als sie mit dem Schminken fertig war, nahm sie eine schwarze Jacke, machte das Licht aus, öffnete die Tür und ging hinaus. Ich erinnerte mich nun an eine der vielen Bar-Episoden in Hemingways in der Ich-Form geschriebenen Erzählungen. Er saß an einer Kurzgeschichte, übrigens in einem Café hier ganz in der Nähe, als er auf eine junge Frau an einem Tisch in der Nähe aufmerksam wurde. Er beobachtete sie einige Minuten lang. Doch da das Schreiben der Kurzgeschichte ihm flott von der Hand ging, war er abgelenkt und sah sie nicht weggehen, „Ich las den letzten Absatz noch einmal durch, und als ich aufblickte und die Frau suchte, fand ich sie nicht mehr. Hoffentlich ist sie mit einem anständigen Mann mitgegangen, dachte ich. Aber ich fühlte mich traurig.“

Auf dem kleinen Tisch des Mannes, der schreibt, zeigt die Uhr Viertel nach acht abends. Seinen Berechnungen zufolge die Uhrzeit, zu der er am Vortag in das Haus kam. Er macht das Licht aus und öffnet die Vorhänge. In der Wohnung gegenüber werden die Lichter und Schatten des Fernsehers, der die ganze Nacht eingeschaltet war, auf die Wand projiziert, als wären sie die einzigen Wesen, die die Einsamkeit an diesem öden Fleck im Herzen der Stadt bevölkern. Dann geht das Licht in der Balkontür ihrer Dachwohnung an. Hinter den Vorhängen verborgen, hat er noch Zeit das Miauen der ausgehungerten Katze, die auf den Alten wartet, zu hören, der schon bald an den Tisch kommen wird, um ihr Gesellschaft zu leisten. Hinter ihm krallt irgendetwas - es klingt wie die Bewegung von zwei durch den Wind herumgewirbelten Blättern - seine spitzen Krallen in die Wand und hält inne, vielleicht eine Fledermaus, die unbemerkt durch das Fenster hereingeflogen ist. In diesem Moment kommt jemand in die Wohnung, in der der Fernseher die ganze Nacht gelaufen ist, doch dies wird er erst erschrocken bemerken, als Augenblicke später die Lichter angehen.

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Ich beendete die Lektüre mit dem Gefühl, das Schreiben des Manuskripts sei zur Unzeit oder entgegen den Absichten dessen, der schrieb, unterbrochen worden. Ich legte es wieder unter die Flasche und ging ans Fenster, um in das Zimmer im Hotel gegenüber, von dem aus die Erzählung vermutlich geschrieben worden war, hineinzuschauen. Die Vorhänge waren aufgezogen, doch es war keine Bewegung zu sehen, zumindest dem Anschein nach. Ich dachte daran, den Text noch einmal zu lesen, um den Zweck des Wechsels der Erzählperspektive zu verstehen, die eine metasprachliche Übung zu sein schien, doch einer meiner Kollegen, die die Wohnung inspizierten, kam und sagte mir, die Badezimmertür sei mit Ziegelsteinen und Zement zugemauert. Wir machten uns ans Werk und innerhalb kurzer Zeit lag alles am Boden. An die Wand des kleinen Kabuffs gelehnt, wurde der Leichnam einer andalusischen Stripperin gefunden, die in einer Erotikshow in der Rue Saint-André-des-Arts arbeitete und seit sieben Tagen verschwunden war.

Es ergaben sich viele Zweifel und Widersprüche über die Geschehnisse seit dem Zeitpunkt des vermutlichen Endes der Erzählung, als der allwissende Erzähler wieder das Wort ergreift. Als der Mann im T-Shirt und die fast kahle Frau befragt wurden, widersprachen sie sich gegenseitig, sobald sie zu reden anfingen. Sie sagte, sie hätte den ohrenbetäubenden Lärm eines Flugzeugs gehört, das die Schallgrenze durchbrach, so dass sie fast taub geworden wäre. Er bestritt das sofort. Er hätte auch ein Geräusch gehört, doch es wäre der fürchterliche Schrei einer Bestie gewesen, der länger als eine Minute angedauert hätte. Allerdings konnte er nicht sagen, ob dieser Schrei wie der irgendeines bekannten Tieres geklungen hätte. Das Paar aus dem Chaos-Zimmer seinerseits berichtete nur, ein machtvoller Lichtstrahl wäre durch das Fenster gedrungen. Doch solange ihnen gestattet wurde, sich dazu zu äußern, waren sie verschiedener Meinung über die Farbe des Lichts. Sie hatte ein sehr starkes orangerotes Licht gesehen. Er so etwas wie ein tödliches Blau, obwohl ihm die Worte fehlten, um zu erklären, wie ein tödliches Blau eigentlich aussähe. Der Mann, der mit der Katze zusammen gegessen hatte, war dement, von ihm war nichts zu hören, außer einem Brummeln, wie wenn jemand Tierlaute imitiert. Die junge Frau aus der Dachwohnung, eine Kroatin, die nur unvollkommen Französisch sprach, war am wenigsten widersprüchlich in ihrer Darstellung. Sie gab zu, in dem betreffenden Moment einen kurzen Schreck verspürt zu haben, so als würde jemand sie beobachten. Doch das sei oft so, erklärte sie, wenn das Hotelzimmer von Männern bewohnt werde. Es würde ihr im Übrigen nichts ausmachen. Im Hotel war jedoch keine Eintragung zu finden, dass das Zimmer in den letzten sieben Tagen vermietet gewesen wäre. Ich las das Manuskript noch etliche Male und bemerkte erst dann, dass es in dem Teil des Eisbergs, der unter Wasser lag, eine konkrete und objektive Spur gab. Doch diese Nacht ließ bei allen, die von ihr erfuhren, eine unabweisbare Gewissheit zurück: Das, was bekannt wurde, war nicht alles, was in Wirklichkeit geschehen war.

Paris, Oktober 2013                       

 

Tailor Diniz, Autor zahlreicher Romane und Kurzgeschichten, Drehbuchautor , Journalist und Herausgeber der Kulturzeitschrift :VOX, hat gerade einen neuen Roman mit dem Titel Em linha reta veröffentlicht, erschienen im Verlag Grua, Porto Alegre. Die vorliegende Erzählung Um mistério na rue de Huchette plant er als erstes Kapitel eines Romans, der 2015 erscheinen soll, zu verwenden. Zu Tailor Diniz siehe auch die Rezension von Albert von Brunn vom 12.2.2013 des in deutscher Übersetzung unter dem Titel Tod auf der Buchmesse (Ü: Angela Wodtke) erschienenen Romans Crime na feira do livro auf dieser Webseite.

Die Erzählung erschien im Original unter: http://etudeslusophonesparis4.blogspot.de/2013/12/um-misterio-na-rue-de-la-huchette.html


auf novacultura veröffentlichte Tailor Diniz im September 2005 die Kurzgeschichte "A Vampira do Lago"


Angela Wodtke,  Diplom-Übersetzerin, von 1985 – 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Translations- Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim. Zurzeit freiberufliche Übersetzerin. 2013 übersetzte sie von Tailor Diniz den Roman Tod auf der Buchmesse (Abera Verlag 2013).