07.11.2011
Eine Dachluke
im düsteren Gebäude der Diktatur
Albert von Brunn über José Saramagos nachgelassenen Roman Clarabóia

Im nächsten Jahr wäre der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago (1922-2010) neunzig Jahre alt geworden. Sein Verleger, Zeferino Coelho, kann zu diesem Jubiläum mit einer Sensation aufwarten – dem als verschollen abgeschriebenen Roman Clarabóia (Oberlicht). Das Roman-Manuskript wurde in den Fünfziger Jahren an die Zeitung Diário de Notícias geschickt und ruhte dort als Verlagsleiche vierzig Jahre lang im Archiv, bis es im Zuge einer Putzaktion drei Jahre vor dem Tod Saramagos wieder auftauchte. Jetzt, zum neunzigsten Geburtstag des portugiesischen Nobelpreisträgers, wird der Text dem Leser zugänglich gemacht. Eine deutsche Übersetzung ist geplant.
Der Roman kreist um ein Haus in der Lissaboner Altstadt und seine Bewohner: auf fünf Stockwerken hausen ein Schuhmacher mit seiner Frau, eine Prostituierte, ein Journalist mit seiner spindeldürren Gattin, ein Ehepaar mit einer bildhübschen Tochter und zuoberst vier Frauen, eine Mutter mit ihrer Schwester und den zwei Töchtern. Die Atmosphäre ist geprägt von Armut und Missgunst, allein der Schuster Silvestre und seine Frau Mariana verbringen glücklich und zufrieden ihren Lebensabend, wäre da nicht die ewige Geldnot. Die ärmliche Routine des Mietshauses wird durch den Schuster durchbrochen, der einem jungen Mann, Abel Nogueira, ein Zimmer vermietet. Eine Freundschaft entsteht zwischen Abel und Silvestre, geprägt von langen Diskussionen über Gott und die Welt, vor dem Hintergrund der politischen Stagnation und dem reaktionären Mief der Fünfziger Jahre in Salazars Portugal. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, Portugal hat ihn zwar unbeschadet überlebt, doch die Stimmung im Nachkriegs-Lissabon ist erdrückend. Der einzige Lichtblick, das symbolische Oberlicht, sind die Diskussionen zwischen Silvestre und Abel, zwischen dem philosophischen Schuster und dem jungen Vagabunden ohne Beruf, feste Stellung und emotionale Bindungen.
Gonçalo Anes Bandarra (1500-1556) ist der Archetyp des philosophischen Schusters in der portugiesischen Geschichte. Geboren und aufgewachsen im Landstädtchen Trancoso, nahe der spanischen Grenze, gilt er als Autor der Trovas, einer Serie messianischer Gedichte über den portugiesischen König Sebastião, um den sich ganz ähnliche Legenden ranken wie um Kaiser Barbarossa in Deutschland. Bandarra galt der Inquisition als suspekt, wurde verhaftet, musste am Autodafé 1541 teilnehmen und dabei schwören, nie mehr die Bibel nach eigenem Gutdünken zu interpretieren.1
Silvestre/Bandarra ist nicht der einzige Rückgriff des jungen Saramago auf die portugiesische Geschichte. Auch Fernando Pessoa taucht auf, und zwar als Lieblingsdichter des Weltenbummlers Abel Nogueira. Kenner des Werkes von José Saramago wird die dichte Atmosphäre dieses Erstlings lebhaft an spätere Roman erinnern, besonders an Das Todesjahr des Ricardo Reis2. Wie im Todesjahr vermischen sich hier die Elemente des portugiesischen Neo-Realismus mit der subversiven Erzählstrategie Saramagos, der Schilderung der Geschichte Portugals aus der Perspektive der Verlierer, dem augenzwinkernden Zitieren von Fernando Pessoas Gedichten (Tabacaria, O mistério das cousas) und der Gleichsetzung des Salazar-Regimes mit der Inquisition: Silvestre und Bandarra werden beide verhaftet und später wieder in den bedeutungslosen Alltag einer Schusterwerkstatt entlassen: »Wir leben unter Menschen, wir helfen den Menschen«, fasst der Schuster seine Weltsicht zusammen. »Was tun Sie denn für die Menschen?« fragt Abel. »Ich flicke ihre Schuhe, da ich sonst nichts für sie tun kann« entgegnet Silvestre.
Clarabóia ist ein gut geschriebener, lesenswerter Roman des im letzten Jahr verstorben portugiesischen Nobelpreisträgers. Abel Nogueira und der Schuster Silvestre öffnen eine kleine Dachluke im düsteren Gebäude einer versteinerten Diktatur. Doch erst deren Sturz im Zuge der Nelkenrevolution wird es dem portugiesischen Schriftsteller erlauben, sein Talent voll zu entfalten und zum bedeutendsten Romancier seines Landes zu werden.
Albert von Brunn (Zürich)
schrieb auf www.novacultura.de zuletzt
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Serrão, Joaquim Veríssimo. »Bandarra, Gonçalo Anes« in: Dicionário de História de Portugal. Porto: Livraria Figueirinhas, 1979, Vol. I, SS. 288-289.
Saramago, José. Das Todesjahr des Ricardo Reis: Roman. Aus dem Portugiesischen von Rainer Bettermann. Reinbek bei Hamburg; Rowohlt, 1988.

José Saramago
Clarabóia: romance.
Alfragide: Editorial Caminho, 2011.
398 S. |