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Modernstes Theater der improvisierten Bekenntnisse
Ondjakis Roman Os Transparentes
rezensiert von Vera Kurlenina

Auf der Dachterrasse eines im Krieg zum Teil zerstörten Hochhauses im Zentrum Luandas finden Vorführungen des »Modernsten Theaters der improvisierten Bekenntnisse« HahnCamões statt. Während ein stummer Pornofilm oder auch nur der Ausblick auf die Stadt gezeigt wird, erfinden die Zuschauer – Straßenhändlerinnen, Arbeitslose, Bohemiens – den Soundtrack dazu. Laut rufen sie ihre intimsten Wünsche und Ängste heraus, erzählen ihre Lebensgeschichten. »Jeder in Luanda ist der Erfinder seiner eigenen Geschichte, passen Sie auf, dass Sie es sich nicht auch angewöhnen«, rät man der BBC-Journalistin, die diese Open-Air-Vorführungen regelmäßig besucht. Doch wird sie dem gut gemeinten Rat folgen?

Wie dieses eigenartige Improvisationstheater hat der Roman weder eine Hauptfigur noch einen zentralen Erzählstrang. Im Zentrum der Narration steht das baufällige achtstöckige Haus mit einem aus leckenden Rohrleitungen im Erdgeschoss entspringenden See und der besagten Terrasse. Es ist ein heimlicher Mittelpunkt des Lebens in Luanda. Alle Figuren, vom Kriegswaisen Paizinho, dem die Bewohner des Hauses gegen kleine Dienstleistungen in einer leer stehenden Wohnung Zuflucht bieten, bis hin zum korrupten Minister, der eine Beziehung zu einer Bewohnerin unterhält, sind mit diesem Ort verbunden.

Hier lebt der arbeitslose Familienvater Odonato, dem der Roman seinen Titel zu verdanken hat. Aus Verzweiflung über die Armut seiner Familie und aus Sehnsucht nach einer utopischen Vergangenheit hört Odonato auf zu essen und wird buchstäblich durchsichtig. Mit jedem Tag wird er leichter und wird immer mehr von der Sonne durchleuchtet, bis er letztlich von seiner Frau wie ein Luftballon an einer Schnur herumgetragen werden muss. »Wir sind durchsichtig, weil wir arm sind«, sagt Odonato über die ephemere Existenz der einfachen Angolaner, die der Willkür der Beamten und der Kriminellen ausgesetzt sind und oft wie Luft behandelt werden.

Hier ist auch der Lebenskünstler JoãoDevagar zu Hause, der selbst ernannte »maneiger« der Straßenhänderinnen seines Wohnblocks und Möchtegern-Zuhälter von aus Schweden eingeführten Luxusprostituierten. Er ist der Gründer des Dachkinos und der KircheDesHeiligenSchafes, in der die Gläubigen statt »amen« »mäh« sagen und finanziell wie Schafe geschoren werden.

Hier hegt und pflegt Eduardo seine außergewöhnliche Hernie, die wetterabhängig ihre Größe und Form wechselt, in der Hoffnung, damit bald auf eine Tour durch die Fernsehstudios der »italienischen Spanien« und sonstiger Länder der Welt zu gehen.

Die Figuren sind durch vielfältige Freundschaften, Rivalitäten, kommerzielle- und Liebesbeziehungen miteinander verbunden. Auf der Terrasse und unten in der wohltuenden Frische bei der unversiegbaren Leitungswasserquelle kommen ihre Stimmen zum Zusammenklang. Jede Stimme im Chor ist unverwechselbar. Die Sprache des Romans ist geprägt durch Wortneuschöpfungen sowie durch das Spiel mit dem Portugiesischen der aus Angola, Brasilien oder den USA stammenden Protagonisten. Oft wirkt die Figurenrede wie ein Prosagedicht. In den Text fließen Liedtexte angolanischer Musiker sowie Prophezeiungen und Lieder der nur Umbundu sprechenden Zauberin AvóKunjikise ein.

Die privaten, tragikomischen Geschichten der Hausbewohner entfalten sich vor dem Hintergrund einer politisch brisanten Satire auf die heutige angolanische Gesellschaft. Es wird offizielle Trauer wegen des Todes der »Genossin Ideologie« verordnet, und man erwartet freudig aufgeregt eine Sonnenfinsternis – ein Segen für die heimische Tourismusindustrie. Statt »Guten Tag!« ruft man sich »Gute Finsternis!« zu. Die korrupte Regierung hat die Privatisierung der Wasserversorgung in Luanda eingeleitet und Ölbohrungen direkt in der Stadt zugelassen. Während selbst die Sonnenfinsternis noch im letzten Moment per Dekret für nichtig erklärt werden kann, vermag auch die Regierung eines nach den Gesetzen des Magischen Realismus lebenden Staates die katastrophalen Folgen der Ölbohrungen nicht abzuwenden ...

Das in Os transparentes gezeichnete Bild des Nachkriegsluanda vereint sozialkritische und fantastische Facetten, ist zugleich tragisch und lebensbejahend. Lyrische Stimmung, Humor und scharfe Satire stehen in keinem Widerspruch zueinander. Es werden ausgelassene Feste und karnevaleske Trauerfeiern begangen, Verliebte finden zueinander und werden kurz darauf durch die Flammen eines apokalyptischen Stadtbrandes getrennt. Die beste Metapher für seine Poetik bietet der Text selbst mit dem Kino HahnCamões: Aus der afrikanischen mündlichen Erzähltradition, für die das Natürliche und das Übernatürliche in keinem Widerspruch stehen, und dem Zusammenspiel mehrerer urbaner Stimmen entsteht ein scheinbar substanzloses, ‚durchsichtiges’ Kunstwerk.

vk - 23.11.2012

Ondjaki:
Os Transparentes
427 Seiten,
Editorial Caminho 2012


Ondjaki ist einer der wichtigsten jüngeren Schriftsteller Angolas. Sein erster Roman »Bom Dia Camaradas« aus dem Jahr 2001 liegt in deutscher Übersetzung von Claudia Stein (Nord-Süd Verlag, 2006) vor. Ondjaki ist Autor von zahlreichen Kinder- und Jugendbüchern, Theaterstücken und Erzählungen, sowie den Romanen »O Assobiador« (2002) und »Quantas Madrugadas tem a Noite« (2004) Sein Jugendbuch »AvóDezanove e o Segredo do Soviético« wurde 2011 mit dem brasilianischen Prêmio Jabuti ausgezeichnet.

Auf novacultura.de veröffentlichte Ondjaki in der Rubrik »
literatrip« »Nós choramos pelo cão tinhoso«, »a libélula« sowie »essa palavra margem«.

Anfang November stellte Ondjaki auf Einladung des Berlinda-Festivals seinen neuen Roman noch vor der offiziellen Veröffentlichung in Berlin und bei TFM in Frankfurt am Main vor.


Vera Kurlenina ist Romanistin und lebt in Tübingen. In ihrer Magisterarbeit beschäftigte sie sich mit dem »Kauderdeutsch« des brasilianischen Schriftstellers Zé do Rock. Sie veröffentlichte zahlreiche Rezensionen zu portugiesischsprachiger Literatur, u.a. in den LiteraturNachrichten der Gesellschaft zur Förderung der Literatur (litprom.de)