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Ich war hier?

»O retorno« von Dulce Maria Cardoso

Doch im Mutterland gibt es Kirschen. Große, leuchtende Kirschen, die sich die Mädchen wie Ohringe an die Ohren hängen. Hübsche Mädchen, wie es sie nur im Mutterland geben kann ...

Ebenfalls für den Prémio Literário Casino da Póvoa nominiert ist der bisher erfolgreichste Roman von Dulce Maria Cardoso: »O Retorno« (Dt. etwa: Die Heimkehr). Bereits seit ihrem zweiten Roman »Os meus Sentimentos« (Asa, 2005) für den sie den Literaturpreis der Europäischen Union erhielt, gilt die Autorin als eine der stärksten Stimmen der aktuellen portugiesischen Literatur. Es folgte »O Chão dos Pardais« (Asa, 2009), eine mit mehreren portugiesischen Preisen ausgezeichnete ebenso beklemmende wie beeindruckende Studie über Macht und Machtmissbrauch. Mit »O Retorno« schaffte sie schließlich erstmals den Sprung über den Atlantik und feierte auch in Brasilien und kürzlich in Frankreich Erfolge, obwohl der Roman eigentlich auf einem Thema basiert, das außerhalb Portugals und den ehemaligen afrikanischen Kolonien sehr wenig bekannt ist: Der Exodus Tausender Portugiesen aus Afrika nach der Unabhängigkeit 1975.

Insbesondere aus Angola, wo Dulce Maria Cardoso aufwuchs, gingen viele Familien, die dort teilweise seit Generationen gelebt hatten, »zurück« ins Mutterland. Dort allerdings wurden sie wider Erwarten überhaupt nicht mit offenen Armen empfangen. Der postrevolutionäre portugiesische Staat war mit der Aufnahme der Flüchtlinge überfordert, Linken galten sie als reaktionäre Revolutionsflüchtlinge und Kolonisten, den Rassisten galten sie als Afrikaner, und da sie alles hatten zurücklassen müssen (die meisten waren ohnehin keine reichen Leute), kamen viele bettelarm nach Europa, das sie oft nur aus Erzählungen kannten. Das »Mutterland« war alles andere als eine Mutter, sondern abweisend und kalt.

Obwohl Dulce Maria Cardoso selbst eine dieser »retornados« war, erliegt sie in »O Retorno« nicht der Versuchung, ihre Biografie nachzuerzählen. Ihr Protagonist ist ein fünfzehnjähriger Junge, dessen Eintritt in die Pubertät zusammenfällt mit der Flucht aus Angola, und der in einer Flüchtlingsunterkunft am Rande Lissabons (ein ehemaliges Fünfsternehotel) auf den Vater wartet, der in Afrika zurückblieb, und von dessen Verbleib niemand weiß.

Es ist das erste Mal, dass wir in einem Hotel sind, das erste Mal, dass wir in einem Hotelzimmer schlafen und auch das erste Mal, dass wir zu dritt in einem Bett schlafen müssen. Im alten Haus hatten meine Schwester und ich ein gemeinsames Zimmer, aber wir waren klein, so klein, dass wir noch Angst im Dunklen hatten, vor Nacktschnecken und Geckos. Die Mutter schlief immer im anderen Zimmer beim Vater. Außer, wenn einer von uns krank war. Dann zog sie zu uns ins Bett und ließ die Kissen nach Haarspray duften. Doch außer, wenn einer krank war, schlief Mutter immer mit Vater im anderen Zimmer. Nur, dass Vater nicht hier ist. Zimmer 315. Der Portier, der uns half, die Koffer hinaufzutragen, sagte, wir hätten Glück gehabt, es ist ein Zimmer mit Balkon und Meerblick. Wir haben auch noch nie so nahe am Meer übernachtet.

Das besondere Verdienst dieses Buches ist, dass es mit keiner Zeile ein »Schicksalsbuch« ist, sondern im Grunde ein Roman über Identität und Entwurzelung, auch über Erwachsenwerden, das den historischen Rahmen, der ebenfalls fast exemplarisch sein könnte, geschickt als dramatischen Hintergrund einsetzt. Mit der Flucht endet für ihren Protagonisten Rui nicht nur die Kindheit, sondern er verliert sämtliche Anhaltspunkte im Leben: Das Zuhause, die Heimat, der Vater sind weg. Das ehemalige Fünfsternehotel ist zur miserablen Absteige geworden in dem immer mehr Flüchtlinge auf engstem Raum miteinander auskommen müssen, das großartige »Mutterland« aus den Schulbüchern stellt sich als garstiges Armenhaus Europas heraus, in dem die »Heimkehrer« vor allen Verachtung erfahren. Auch die Beziehung zur Mutter und schließlich dem Vater, der plötzlich wieder auftaucht, wird nicht nur von der Pubertät in Frage gestellt, sondern erst recht von den Verhältnissen. Und während man in der Schule gehänselt wird wegen der ärmlichen Kleidung, der merkwürdigen Aussprache, der Herkunft, träumt man sich in eine bessere Welt. »Saudade« auf der dreckigen Dachterrasse eines Flüchtlingshotels.

Schon nach »Os meus Sentimentos« musste sich Dulce Maria Cardoso den Vorwurf gefallen lassen, die »Nelkenrevolution« allzu negativ darzustellen. Ihre Avon-Verkäuferin, die kopfüber in einem verunfallten Auto hängt, ist weder Gewinnerin noch Verliererin der vielleicht bedeutendsten politischen Umwälzung in Europa vor 1989, sie ist einfach normal, hat Probleme, die ganz persönlich sind, und, ja, sie hat auch etwas verloren, obwohl sie nie Täterin war. Auf ähnlich schmalem Grat wandert Dulce Maria Cardoso auch nun wieder, denn Rui, ihr 15-jähriger Flüchtlingsjunge, trauert durchaus einer Zeit nach, in der für ihn alles in Ordnung war, und die ihm mit der Zeit immer idyllischer erscheint. Doch sie macht sich nicht zur Sprecherin dieser Rückwärtsgewandtheit, sondern erzählt und beschreibt - geradezu nüchtern und schmerzhaft.

Und ja, es ist auch ein Buch über Hoffnung.

Und wieder ein Abschied:

Morgen werde ich schon nicht mehr hier sei. Es kommt mir unwirklich vor. Kommt mir unwirklich vor, dass der Tag da ist, an dem ich das Hotel verlassen darf, und ich Angst davor habe, dass wir wieder eine Familie sein werden mit einer Wohnung. Ich habe Angst davor, dass wir aufhören, eine unter vielen Heimkehrerfamilien im Hotel zu sein und zu einer Heimkehrerfamilie unter Familien zu sein, die von hier sind.

 

(...)

 

Ein Flugzeug fliegt nach rechts über den Himmel. Ganz lautlos. Wie ein träges Stück Kreide in den unsichtbaren Händen von Gott. Zu anderen Zeiten hätte ich ihm von hier unten geantwortet. Vielleicht antworte ich noch. Zu anderen Zeiten hätte ich ihm geschrieben, vielleicht schreibe ich noch, in ganz großen Buchstaben über die gesamte Breite der Dachterrasse, damit er mich auch nicht übersieht, dass ich hier war.

Ich war hier. 

 

mk, 29.01.2014

 

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Dulce Maria Cardoso:
O retorno
267 Seiten,
Tinta da China 2011


Weitere lieferbare Titel von Dulce Maria Cardoso:

Campo de Sangue
(Asa, 2. Aufl.: 2009)
Os meus Sentimentos
(Asa, 2005)
O Chão dos Pardais
(Asa, 2009)


Weitere für den Prémio Literário Casino da Póvoa 2014 nominierte Titel:

A Instalação do Medo,
Rui Zink
(Teodolito
)

A Luz é Mais Antiga que o Amor,
Ricardo Menéndez Salmón
(Assírio & Alvim
)

A Maldição de Ondina,
António Cabrita
(Abysmo
)

A Sul. O Sombreiro,
Pepetela (Dom Quixote
)

A Vida no Céu,
José Eduardo Agualusa
(Quetzal
)

Caligrafia dos Sonhos,
Juan Marsé (Dom Quixote
)

Dentro de Ti Ver o Mar,
Inês Pedrosa
(Dom Quixote
)

Diário da Queda,
Michel Laub
(Tinta da China
)
- auf Deutsch: »Tagebuch eines Sturzes«, Klett-Cotta 2013

Metade Maior,
Julieta Monginho
(Editorial Estampa
)

O Filho de Mil Homens,
Valter Hugo Mãe (Alfaguara
)

O Retorno,
Dulce Maria Cardoso
(Tinta da China
)

Pai, Levanta-te, Vem Fazer-me um Fato de Canela,
Manuel da Silva Ramos
(A.23 Edições)

Quando o Diabo Reza,
Mário de Carvalho (Tinta da China
)

Um Piano Para Cavalos Altos,
Sandro William Junqueira
(Caminho
)

Uma Mentira Mil Vezes Repetida,
Manuel Jorge Marmelo (Quetzal
)