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Neun Personen auf der Suche nach einem Autor
Luiz Ruffato: Flores artificiais
rezensiert von Albert von Brunn

Rio de Janeiro, 27. Dezember 1999: Der Ingenieur Dório Finetto landet auf dem Flugplatz Galeão, um in seiner Garçonnière mit Blick auf den Strand von Flamengo Silvester zu verbringen und auf das Neue Jahr zu warten. Böllerschüsse krachen, die Kerzen für die Meeresgöttin Yemanjá schwimmen auf das Wasser hinaus, Nachbarn beglückwünschen ihn zum neuen Millennium. Doch Dório ist nicht zum Feiern zumute. Seine Eltern sind schon lange tot, von den Geschwistern hat er nie mehr etwas gehört, Kinder hat er keine: Lebenskrise. Langsam erinnert er sich an eine Anzahl Begegnungen, die ihm im Laufe seiner Wanderjahre in Erinnerung geblieben sind. Aus diesen neun Begegnungen besteht das ganze Buch, das Dório in Anlehnung an den portugiesischen Schriftsteller Almeida Garrett (1799-1854) Wanderungen in fremden Landen (1) nennt.

Das Kaleidoskop der Erinnerungen beginnt in Juiz de Fora mit dem schottischen Weltenbummler Bobby Clarke, Sohn eines Eisenbahners der São Paulo Railway. Haltlos durch die Welt getrieben verstrickt sich Bobby in afrikanische Kolonialkriege, versucht, zweimal vergeblich eine Familie zu gründen und landet schliesslich als Rattenfänger in der Kleinstadt in Minas Gerais. Es folgt die Episode einer Deutschlehrerin aus Paris auf der Suche nach dem Lebensglück im argentinischen Tango und die Suche des Uruguayers »El Gordo« nach seinem Vater, der während der Militärdiktatur nach Brasilien geflohen ist. Höhepunkt des Buches ist die Geschichte des Italo-Argentiniers Marcelo Barresi, Sushi-Essen in Beirut, angesiedelt im fünften Stock eines libanesischen Luxushotels: »Ich habe keine Heimat!« erklärt Barresi und schildert das zwanzigste Jahrhundert aus der Perspektive einer italienischen Einwandererfamilie: »Alles begann mit meinem Grossvater, Salvatore Barresi, einem grossgewachsenen, dunklen und bärtigen Kalabresen, der 1913 nach Brasilien auswanderte. Er war achtzehn Jahre alt und Anarchist. In São Paulo soll er am ersten Generalstreik beteiligt gewesen sein und musste anschliessend nach Buenos Aires fliehen, wo er der Federación Obrera beitrat«. Die Ruhelosigkeit verfolgt auch den Enkel Marcelo, der 1976 nach dem Militärputsch aus Argentinien fliehen muss: »In meiner Angst wurde mir klar, dass ich niemals den Mut aufbringen würde, nach Argentinien zurückzukehren, ein Land, das ich liebte, ohne mich dort zuhause zu fühlen. Das ist mein Problem: ich fühle mich nirgends zuhause« (S. 122).

»Ein Fall aus dem Leben darf absurd sein, ein Kunstwerk, sofern es ein Kunstwerk ist, nicht«. Mit diesem Pirandello-Zitat (2) beginnt Dório Finetto seine Wanderung, die ihn zuerst nach Juiz de Fora, dann nach Argentinien, Uruguay, Kuba, Deutschland, Ost-Timor und Puerto Rico führt. Luigi Pirandello ist eine Art Leitstern dieses Buches: waren es im bekanntesten Theaterstück des Sizilianers (3) sechs Personen, die einen Autor suchten, so sind es hier neun. Dório Finetto und seine acht Gesprächspartner sind alles Entwurzelte auf der Suche nach der Feder eines Schriftstellers, der ihren gescheiterten Existenzen einen Sinn verleiht. Dieser Schriftsteller ist Luiz Ruffato.

 

Albert von Brunn

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(1) Garrett, João Baptista da Silva Leitão de Almeida. Der Mönch von Santarém, oder Wanderungen in meinem Vaterland. Aus dem Portugiesischen von Adolf Seubert. Leipzig: Reclam, 1880.

(2) Pirandello, Luigi. »Bemerkungen über die Skrupel der Phantasie« in: Mattia Pascal: Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Piero Rismondo, überarbeitet und mit einem Nachwort versehen von Michael Rössner. Berlin: Propyläen, 1999, SS. 318-319. (Gesammelte Werke; Bd. 9)

(3) Pirandello, Luigi. Sechs Personen suchen einen Autor. Aus dem Italienischen übersetzt von Annika Makosch. Stuttgart: Reclam, 2012. (Reclams Universal-Bibliothek; 8765)

 

 

 

Luiz Ruffato: Flores artificiais, Companhia das Letras 2014

Luiz Ruffato
Flores artificiais
149 páginas
Companhia das Letras, 2014


Auf Deutsch sind von Luiz Ruffato lieferbar:

Es waren viele Pferde
(übers.: Michael Kegler. Assoziation A, 2012)
Mama, es geht mir gut. Vorläufige Hölle, Band 1
(übers.: Michael Kegler, Assoziation A, 2013)
Feindliche Welt. Vorläufige Hölle, Band 2
(übers.: Michael Kegler, Assoziation A, 2014)


Albert von Brunn (Zürich) schreibt regelmäßig auf www.novacultura.de, zuletzt über Milton Hatoum: Um solitário à espreita