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Rolândia: ein Besuch vor dem Untergang
Luis S. Krausz: Bazar Paraná

rezensiert von Albert von Brunn

Die Reise mit dem Düsenjäger der VASP von São Paulo nach Londrina erschien mir als der Gipfel des Luxus: verstellbare Rücksitzlehnen, kühle Klimaanlage, kalte Häppchen mit Holzofenbrot ohne Rinde. Statt endlosen Fahrten im Auto unter sengender Sonne benötigte der Jet weniger als eine Stunde. Ich sah aus dem Fenster auf rote Erde und Wolken und schon waren wir angekommen im Flughafen der Stadt Londrina, wo uns Dr. Fritz Hinrichsen und seine Frau Leni mit einem Lächeln erwarteten1.

Der jugendliche Erzähler schildert eine dreitägige Reise mit seiner Familie nach Rolândia, im Norden des Staates Paraná, einer deutschen Gründung. Die Gastgeber, das Ehepaar Hinrichsen und ihre Freunde, haben die Altersgrenze erreicht und werden ihre Farmen nicht mehr lange bewirtschaften können. Der Erzähler, ein Stadtmensch, beobachtet mit den Augen eines Teenagers die untergehende Welt dieser deutsch-jüdischen Siedler, die vor dem Naziregime in den Dreissiger Jahren nach Brasilien geflüchtet sind und dort eine neue Heimat gefunden haben.

Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg gab es zahlreiche Bemühungen, für verarmte Deutsche eine neue Heimat in Übersee zu finden. Eine dieser Siedlerorganisationen war die Gesellschaft für wirtschaftliche Studien in Übersee (GWS) mit exzellenten Kontakten zur politischen Elite der Weimarer Republik. Die GWS erwarb 1932, als die Machtergreifung der Nazis unmittelbar bevorstand, von einem Londoner Konsortium, Paraná Plantation Syndicate (PPS) ein grösseres Landgebiet etwa 30 km nordwestlich von Londrina und wählte für die neue Siedlung den Namen Roland, weil drei ihrer Begründer aus Bremen stammten. Ab Januar 1933 wurde Rolândia zum Fluchtpunkt in den Tropen für all diejenigen, die vom nationalsozialistischen Regime verfolgt wurden, darunter zahlreiche jüdische Familien2. Als die Devisenvorschriften immer restriktiver wurden, fanden die Gründerväter einen Trick, mit dem Auswanderungswillige Landrechte in Rolândia erwerben konnten. An diesen Austauschgeschäften nahmen zumeist wohlhabende, aus dem gehobenen Bürgertum stammende Ausreisewillige teil. Nach dem Krieg sank die Zahl der Deutschstämmigen rapide und heute ist Rolândia eine brasilianische Provinzstadt mit rund 58‘000 Einwohnern, wo kaum jemand mehr Deutsch spricht, wenn auch der Roland auf dem Marktplatz, ein Geschenk der Bremer Bürgerschaft, bis heute an den deutschen Ursprung erinnert3.

Von zahlreichen Exkursen begleitet, dreht sich die Handlung des Romans um zwei Ehepaare, Hinrichsen und Maier, auf halber Strecke zwischen historischer Realität und Fiktion. Geschildert wird der rührende Versuch dieser jüdischen Emigranten, ihr städtisches Leben und ihre Kultur in den brasilianischen Urwald hinüberzuretten. Dazu gehören die mehrfach gewendeten Lodenmäntel, die Rezepte für den Baumkuchen, Kaffekränzchen und der obligatorische Meter Schiller, in schwarzes Leder gebunden, auf dem Bücherregal. Doch die tropische Idylle ist bedroht: die Kinder ziehen aus, die Termiten fressen sich durch die Schränke, Briefmarkensammlungen, alte Bilder und Porträts von Theodor Herzl vergilben und sind bald nicht mehr zu sehen. Auch die Generation der Pioniere wird vom Zahn der Zeit nicht verschont: trotz gesunder Lebensweise und pietistischer Einkehr wird dem ersten Bypass bald ein zweiter folgen und der Verkauf der kleinen Farmen ist nur eine Frage der Zeit. Übrig bleiben die Friedhöfe, deren Grabsteine - in lutherischer Strenge gehalten - hie und da noch einen Judenstern aufweisen als Hinweis auf eine alles andere als freiwillige Auswanderung von Frankfurter Rechtsanwälten, Journalisten aus Hannover oder Landwirten aus Breslau in das Hinterland von Paraná. Mit viel Liebe zum Detail schildert der Erzähler die Versatzstücke deutschen Alltags, die das Leben in diesem abgelegenen Winkel der Erde erträglicher machen sollen: Eierschneidemaschinen, deutsches Qualitätspapier für die Memoiren der Gründerväter, Meissner Porzellantassen mit und ohne Henkel, Büromöbel aus schwarzem Nussholz. Doch über dieser ganzen Welt schwebt der Engel des Todes:

Ein Engel zog vorbei, sein Flügelschlag überdeckt von Rascheln der Blätter. Es war der Todesengel, der bereits um den Tisch, den Pavillon und die Farm unserer Gastgeber kreiste, wie ein Raubvogel, der von weitem den Ablauf der Ereignisse beobachtet und dabei geduldig auf den richtigen Moment für seinen Angriff wartet.4

Luis Krausz (geboren 1961 in São Paulo) ist Professor für jüdische Literatur an der Universität São Paulo und Autor zweier Romane, Desterro (2011; deutsch Verbannung, 2013) und Deserto (2013) sowie einer Geschichte der jüdisch-deutschen Literatur, Passagens (2012). Mit seinem neuesten Buch führt er uns auf eine Reise in ein Land, das es nicht mehr gibt, das metaphysische Deutschland der jüdischen Emigration im Norden von Paraná. 

Albert von Brunn (Zürich), 28.08.2015

 


1  Krausz, Luis S. Bazar Paraná. São Paulo: Benvirá, 2015, S. 1.

2  Oberdiek, Hermann Iark. Fugindo da morte: imigração de judeus alemães para Rolândia, na década de 1930. Londrina: UEL, 1997, SS. 89-90,133.

3  Mainka, Peter Johann. „Rolândia – deutsche Siedler und Emigranten im Norden von Paraná“ in: Mehr vorwärts als rückwärts schauen: Das deutschsprachige Exil in Brasilien 1933-1945.hrsg. Sylvia Asmus, Marina Eckl Berlin; Hentrich & Hentrich, 2013, SS. 102-114.

4  Krausz, Luis S. Bazar Paraná. São Paulo: Benvirá, 2015, S. 184.

 

 

Lius S. Krausz
Bazar Paraná.
288 páginas
Benvirá Editorial, 2015


Luis Krausz (geboren 1961 in São Paulo) ist Professor für jüdische Literatur an der Universität São Paulo und Autor zweier Romane, Desterro (2011; deutsch Verbannung, 2013) und Deserto (2013) sowie einer Geschichte der jüdisch-deutschen Literatur, Passagens (2012). Mit seinem neuesten Buch führt er uns auf eine Reise in ein Land, das es nicht mehr gibt, das metaphysische Deutschland der jüdischen Emigration im Norden von Paraná.

Auf deutsch ist lieferbar:


Verbannung (Desterro)
Übersetzt von Manfred von Conta
160 Seiten
Hentrich & Hentrich, 2013


Albert von Brunn (Zürich) schreibt regelmäßig auf www.novacultura.de, zuletzt über Luiz Ruffato:Minha primeira vez