03.12.09
Der ausgestoßene Rebell
José Saramagos Kain
von Albert von Brunn
»Kain schleppte sich mühsam durch unwegsames Gelände ohne ein Dach oder andere Zeichen menschlicher Gegenwart, inmitten einer trostlosen Einsamkeit, die durch ein aufziehendes Unwetter noch unheimlicher wurde. Als die ersten Tropfen fielen, erinnerte er sich plötzlich, weshalb sein Gewand mit Blut befleckt war. Er hoffte, der Regen würde die Flecken zum Verschwinden bringen [...]. Abel war kein Lamm, er war mein Bruder«.
Mit diesem Bild des ausgestoßenen Rebellen Kain konfrontiert uns der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago in seinem neuesten Buch. Nach dem Brudermord mit dem Kainsmal versehen, zieht der mit einem Fluch beladene Kain durch die Wüste, ins Land Nod, ein Niemandsland Exilierter und Verdammter, wo er die Stadt Enoch aufbauen hilft und zur Geliebten von Lilith wird. Saramago schickt seinen Kain auf eine Zeitreise durch zahlreiche Abenteuer des Alten Testaments. So beobachtet er den Turmbau zu Babel und die Verwirrung der Sprachen, die Zerstörung von Sodom und Gomorra, Moses und die Anbetung des Goldenen Kalbs, Hiobs Schicksalsschläge und sein Hadern mit Gott. Zum Schluss wird er von Noah mit in die Arche genommen und überlebt als einziger Sterblicher die Sintflut. Gottes Pläne werden durchkreuzt, Noah und seine Familie in die Fluten geworfen. Es wird keine neue Menschheit mehr geben, übrig bleiben nur der Schöpfer und der Brudermörder, die bis zum Ende der Welt miteinander streiten.
Caim, die letzte große Abrechnung des portugiesischen Nobelpreisträgers mit dem Christentum, hat die erwartete Polemik ausgelöst. Als Saramago zusammen mit seinem Verleger Zeferino Coelho am 19. Oktober 2009 den Roman in der kleinen Stadt Penafiel im katholischen Norden Portugals vorstellte und dabei erklärte, die Bibel sei ein »Buch schlechter Gewohnheiten«, voll mit Szenen der Gewalt, des Inzests und anderer Gräuel, da brach im portugiesischen Wasserglas ein Sturm los. Mgr. Manuel Marujão, der Sekretär der Portugiesischen Bischofskonferenz, bezeichnete das Buch als eine Publicity-Aktion und der portugiesische Europaabgeordnete Mário David forderte den Schriftsteller gar auf – wie angekündigt – auf seine portugiesische Staatsbürgerschaft zu verzichten. Der Rabiner Eliezer di Martino nahm die Sache gelassener: »Die jüdische Welt wird sich wegen Saramagos Schriften nicht aus der Ruhe bringen lassen [...]. Saramago hat keine Ahnung von Bibelexegese«.
Welchen Platz die Zukunft dem Romanwerk von José Saramago auch einräumen wird, er ist unbestritten einer der meistgelesenen Autoren in Portugal, Spanien, Lateinamerika und schließlich in der ganzen Welt. In den meisten seiner Werke platziert Saramago eine explizite oder implizite Bekräftigung seines Atheismus, zum Teil gewürzt mit Sarkasmus und Ironie. 1991 holte er mit seinem Roman Das Evangelium nach Jesus Christus zu einem Frontalangriff auf den christlichen Glauben aus, bei der alle Werte des Göttlichen entheiligt und durch ein menschliches Prisma betrachtet wurden. Die Romanfigur des Jesus ist dabei wenig attraktiv, kein revolutionärer Christus, der zudem so gut wie nichts mit den Christusvorstellungen des 20. Jahrhunderts zu tun hat, sondern als Opfer einer kalten und berechnenden göttlichen Macht erscheint, als Hampelmann in den Händen Gottes. Kain, die Hauptfigur im neusten Roman, ist als Rebell weit erfolgreicher als die Romanfigur in Saramagos Evangelium. Indem er Noahs Familie ermordet, durchkreuzt er Gottes Pläne für eine neue Menschheit. Nach der Sintflut bleiben im Roman nur noch Tiere übrig, um die Erde zu bevölkern, und Kain selbst, einziges Überbleibsel eines in den Fluten ertrunkenen Geschlechts.
In seinen Werken beschreibt José Saramago eine Art literarische Exegese Gottes. Gott ist dabei eines seiner zentralen Themen, stets gebrochen durch eine ironische oder sarkastische Schreibweise und eine Parodie biblischer Geschichten im intertextuellen Spiel mit den Evangelien. Saramago verweist auf die Verzweiflung des Menschen in Beziehung zu diesem Gott, sei es in Form von Schuldgefühlen, als Entsetzen über die in seinem Namen geführten Kriege oder der Verzweiflung Hiobs, der nicht verstehen kann, warum er leiden soll, obwohl er Gottes Gebote erfüllt und ein frommes Leben führt. Hiob ist die einzige Figur aus dem Evangelium nach Jesus Christus, die auch im neuesten Roman wieder auftaucht, ein mit Gott hadernder, frommer und zweifelnder Mensch, Gegenfigur zu Kain, der Gottes Pläne durchkreuzt und die Sintflut dazu benützt, um das Menschengeschlecht zu vernichten. Wie in der Bibel, so geht auch Saramago der Frage nach, wie das Böse in die Welt kam und warum es von einem allmächtigen Gott geduldet wird.
Borges und die Apokryphen
»Vor ein paar Tagen kam mir der Gedanke [...], dass es zu den größten Ambitionen eines Schriftstellers gehört, nicht etwa [...] Finnegan’s Wake von James Joyce, sondern ein fünftes Evangelium zu schreiben. Ein solches Evangelium könnte eine Ethik verfechten, die mit den übrigen Evangelien nichts gemeinsam hat«, erklärte Jorge Luis Borges in einem Interview. »Aber das ist nicht das Problem. Die größte Herausforderung besteht darin, in der Sprache der Bibel neue Gleichnisse zu erfinden«.
Wenn Jorge Luis Borges auch niemals ein fünftes Evangelium geschrieben hat, so lässt sich doch ein Teil seines Werks im Licht dieses Traums vom apokryphen Evangelium lesen. Zahlreiche Gedichte und Prosatexte, deren Titel häufig auf eine Bibelstelle verweist, haben einen ketzerischen oder zumindest nicht-kanonischen Unterton. Doch was bedeutet eigentlich apokryph? In der Antike bedeutete das griechische Wort soviel wie ‚geheim’ oder ‚verborgen’ und bezeichnete Texte, die nicht ohne Vorkenntnisse verständlich waren. Ab dem 4. Jahrhundert wandelte sich der Begriff: »Die alte Kirche bezeichnete als Apokryphen solche Schriften, die im Gegensatz zu den öffentlichen, in der Kirche bekannten Büchern geheim, ‚verborgen’ waren [...]. Sie galten als verdächtig, weil man ihre Herkunft nicht kannte, weil sie viele Fabeleien enthielten [...] und nicht wenige Apokryphen auch von Häretikern geschrieben waren«.
Einer der wichtigsten Texte von Jorge Luis Borges in diesem Zusammenhang behandelt die Geschichte von Kain und Abel, die Borges als Legende bezeichnet: »Abel und Kain begegneten sich nach Abels Tod. Sie wanderten durch die Wüste und erkannten sich von weitem, denn beide waren groß [...]. Beim Schein der Flammen bemerkte Kain auf Abels Stirn das Zeichen des Steins, er ließ das Brot fallen, das er gerade zum Mund führte und bat, er möge ihm das Verbrechen vergeben. Abel erwiderte: - Hast du mich getötet oder habe ich dich getötet? Ich erinnere mich nicht mehr; wir sind hier beisammen wie früher. – Jetzt weiß ich, dass du mir wahrhaft vergeben hast, sagte Kain, denn vergessen ist vergeben[...]. Abel sagte bedächtig: - So ist es. Solange die Gewissensbisse dauern, dauert die Schuld«.
Dieses kurze Fragment ist eine Art apokrypher Epilog zur Geschichte von Kain und Abel, wie Borges sich das vorstellt. Die Erzählung scheint anzudeuten, dass Abels Verzeihen für den Mord nur in einer Legende vorstellbar ist, in einem literarischen Raum, der außerhalb der Bibel steht. Nicht von ungefähr treffen sich die beiden Brüder in der Wüste, einem Ort ohne Zeit, einem Ort des Todes. Dem biblischen Mythos von Kain und Abel stellt Borges eine Art Anti-Mythos entgegen, der aus Vergessen und Verzeihen besteht: Abel erinnert sich an nichts mehr und Kains Erinnerung wird erst durch den Widerschein der Flammen geweckt, in deren Licht die Wunde sichtbar wird, die der Stein geschlagen hat. José Saramagos Kain knüpft an bei Borges: auch hier ist der Schauplatz die Wüste, aber Abel ist nur noch ein ferner, stummer Vorwurf. Das Blut auf dem Gewand ist die letzte Erinnerung an den ermordeten Bruder, der ebenso wenig verzeiht wie Gott. Der Schöpfergott von Genesis 4,1-10 ist nicht bereit, den Brudermord als Variante menschlicher Vergänglichkeit zu akzeptieren, noch die tödliche Vernichtung des Brudermörders zu tolerieren. Der Mensch erlebt in sich selbst Kain, der aus Zorn gegen Gott die Hand gegen seinen Bruder erhebt: »Bin ich meines Bruders Hüter? Ich habe Abel nur getötet, weil ich Dich nicht umbringen kann«.
Kain und Abel bei Saramago
»Nichts fällt leichter, als Kain zu verurteilen, und auch ich werde ihn nicht entschuldigen«, erklärte Saramago in einem Interview. »Stattdessen schiebe ich einen Teil der Schuld Gott zu. Als die beiden Brüder ihm die Früchte ihrer Arbeit darbringen, opfert Kain Gemüse und Abel, der Viehzüchter, ein Lamm. Gott ist entzückt über das Fett des Lammbratens und verachtet Kains Gabe. Was ist das für ein Gott, der den einen lobt und den anderen ostentativ verachtet? Kain wird von Gott erniedrigt und erschlägt seinen Bruder, weil er Gott nicht töten kann«.
Kein biblisches Motiv wurde in der Literatur des 20. Jahrhunderts so oft aufgegriffen wie der Brudermord Kains an Abel: Konkurrenz, Rivalität und Gewalt haben bis heute nichts an Aktualität verloren. Kaum zufällig sind es Autoren jüdischer Herkunft, die, meist nur knapp den Gaskammern der Nazis entronnen, auf den Urmord der Genesis zurückgriffen. Die Geschichte des biblischen Brudermords kann als Fortsetzung des Sündenfalls betrachtet werden, denn in der Bibel folgt sie unmittelbar auf die Vertreibung aus dem Paradies und stellt einen horizontalen Bruch zwischen zwei Geschwistern dar, logische Konsequenz des vertikalen Bruchs von Adam und Eva mit Gott. Wohl sind Brüder dazu verpflichtet, sich zu lieben und zu beschützen, doch zugleich sind sie Rivalen und ringen um soziale Anerkennung, Erfolg und die Gunst des anderen Geschlechts.
Im Gegensatz zur islamischen Tradition, bei der die Rivalität um eine Frau und der Inzest eine zentrale Rolle spielen, hält sich José Saramago strikt an die christliche Version der Kainsgeschichte, bei der Schuld und Sühne, Konkurrenz, Rivalität und Gewalt die Szene beherrschen. Wie im Evangelium nach Jesus Christus, so spielen auch hier symbolische Elemente eine Hauptrolle, besonders der Gegensatz zwischen Licht und Dunkelheit und die Wüste. Die Dunkelheit ist nicht nur gleichbedeutend mit dem Fehlen von Licht, sondern auch mit der Passivität und Gleichgültigkeit Gottes gegenüber dem Menschen, der sich gegen seinen Schöpfer wehren muss. Die Wüste ist ein weiteres Symbol für Gott, ein Zeichen der Leere und Einsamkeit. Diese Wüste hat nichts mit der christlichen Szenerie für Buße und Askese zu tun, sondern mit den Kräften des Bösen: die Wüste ist eine tödliche Bedrohung. Kain kann nur überleben, weil er – am Ende seiner Kräfte angelangt – eine halbzerfallene Hütte findet, in der er sich ausruhen kann. Ein weiteres Leitmotiv ist der Schäfer, der ihm den Weg nach Enoch weist.
Die Stadt Enoch ist das Ergebnis eines sozialen Konflikts zwischen Kain und Abel. Der sesshafte Ackerbauer Kain erschafft die Stadt. Modernisierung und Fortschritt sind das Ergebnis des Brudermords. In diesem Sinne wurden die Städte von entwurzelten Söhnen Kains geschaffen, die ihre Dörfer verlassen mussten, in denen sie nicht mehr zuhause waren. Getreu der Bibel zieht auch Saramagos Kain in die Stadt Enoch, wo er als einfacher Arbeiter den Palast der Herrscherin Lilith aufbauen hilft, zu ihrem Liebhaber wird und mit ihr einen Jungen zeugt. Doch von alledem bleibt nichts übrig: Lilith und der kleine Junge ertrinken in der Sintflut, ohne dass Kain seiner Familie eine Träne nachweint. Seine Energie konzentriert sich allein auf die Rache an Gott, dem patriarchalischen Despoten. Während der biblische Kain für seine Rebellion die Gabe der Kultur erntete und seine Nachfahren die Erzgewinnung und die Musik erfanden, bleibt bei Saramago nur der einsame Rebell, der mit seinem Schöpfer hadert. Vielleicht ist dies das letzte Bild, mit dem sich der portugiesische Nobelpreisträger von uns verabschieden will - der Brudermörder Kain unter einem leeren Himmel in einer baumlosen Wüste, auf dem Weg zum Tod.
Albert von Brunn (Zürich)
Albert von Brunn ist Literaturwissenschaftler und ständiger Mitarbeiter von novacultura. Zuletzt erschien hier seine Rezension über Milton Hatoum: Asche vom Amazonas. Sein jüngstes, im Oktober erschienenes Buch befasst sich ebenfalls mit dem brasilianischen Autor: Milton Hatoum. Zwischen Orient und Amazonas (TFM in Frankfurt am Main 2009). |
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