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14.03.2011 - albert von brunn Mein fremder Krieg: Marina Colasanti zwischen Afrika, Italien und Brasilien von Albert von Brunn. »Als ich die Figuren bemalte, die ich aus der Provence für meine Weihnachtskrippe mitgebracht hatte, erweckte der Mohrenkönig in mir alte Erinnerungen, als ich mit meiner Großmutter und meinem Onkel unmittelbar nach dem Krieg in Rom lebte«, erinnert sich Marina Colasanti (1). »Ich hatte einen Preis gewonnen und sollte mit meinem Onkel Cinecittà besuchen, wo eine Marktszene gedreht werden sollte […]. Licht! schrie eine Stimme aus dem Lautsprecher. Eine stechende Sonne verbrannte Fassaden. Ton! Grillen und Zikaden begannen zu singen und mein Blick richtete sich auf die Palmen, auf denen Vögel zwitscherten Action! […]. An jenem Morgen war ich irgendwo nahe der Wüste, vielleicht dort, wo das Kind in der Krippe geboren wurde, das ich soeben bemalt hatte. Als ich mich an jene Marktszene erinnerte, fiel mir ein, dass meiner Weihnachtskrippe das Kamel fehlte«. Der Besuch in der italienischen Traumfabrik Cinecittà kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine der Schlüsselszenen in den Memoiren der italo-brasilianischen Schriftstellerin und Malerin Marina Colasanti (2) und symbolisiert ihre Existenz zwischen drei Kontinenten – Afrika, Europa und Südamerika. Am 26. September 1937 wurde sie in Asmara (Eritrea) geboren, das damals eine italienische Kolonie war. Ihre Eltern, Manfredo Colasanti und Elisa del Bone, gehörten zu den Enthusiasten der Mussolini-Diktatur. Vater Manfredo war 1919 mit sechzehn Jahren dem Dichter Gabriele D’Annunzio (1863-1938) auf seinem Husarenritt nach Fiume, dem heutigen Rijeka, gefolgt, das nach dem Ersten Weltkrieg an Jugoslawien fiel, aber von den italienischen Nationalisten als terra irredenta, als unerlöster Teil des italienischen Heimatlandes reklamiert wurde. Das Buch beginnt mit der Hochzeit der Eltern im September 1935, mit der ganzen Truppe in Habachtstellung, kurz bevor sich Manfredo Colasanti mit einem Kontingent italienischer Truppen in das Kolonialabenteuer in Ostafrika stürzte. Marina versucht, sich die Gründe für den kriegerischen Impetus des Vaters zu erklären, seine Faszination für die Uniform und den Faschismus. Die Mutter, Lisetta, geistert demgegenüber wie ein Rätsel durch das Buch, obwohl sie die Schriftstellerin in ihrer Jugend auf Schritt und Tritt begleitete, denn der Vater war im Militärdienst und meistens außer Haus (3). Das Buch schildert die Irrfahrt einer italienischen Familie aus den ehemaligen Kolonien in Ostafrika nach Tripolis, von dort nach Italien und dann quer über die Apenninenhalbinsel, immer auf der Flucht vor dem Krieg und auf der Suche nach einem sicheren Hafen. Marina Colasanti hat niemandem den Krieg erklärt, und dennoch beherrscht der Krieg ihre Kindheit. Die Familie lässt sich zunächst in einem kleinen Strandhotel in Porto San Giorgio in den Marken, in der Nähe von Ascona, nieder. Marina und ihr Bruder Arduino spielen jahrelang Ferien, unterbrochen von den Kriegsmeldungen, die das Auf und Ab von Rommels Afrikafeldzug in der Cyrenaika widerspiegeln, gefiltert durch die Zensur des faschistischen Regimes, die nur durch verbotenes nächtliches Abhören von Radio London in italienischer Sprache etwas relativiert werden kann. Der Krieg kommt immer näher, Mussolini wird gestürzt, und die Familie muss unter dem Bombenhagel der Alliierten nach Norditalien fliehen, zunächst nach Como und gegen Ende des Krieges in ein kleines Alpenstädtchen oberhalb des Comer Sees, Albavilla. Dort zieht am 25. April 1945 die 5. Amerikanische Armee ein, erobert Albavilla und verteilt eine Wagenladung frische Brötchen. Marina ist das einzige Familienmitglied, das sich freut, weil der Krieg zu Ende ist. Für alle anderen bedeutet sie das Ende der Illusionen. Eine schwierige Nachkriegszeit beginnt, die Familie zieht in Etappen wieder in den Süden, nach Rom und quartiert sich bei der Großmutter ein, denn deren muffiger Palazzo wurde dank der Intervention des Papstes vor der Zerstörung bewahrt. Da kommt der Familie Colasanti ein glücklicher Zufall zu Hilfe: die jüngste Schwester des Vaters, Gabriella Besanzoni, eine begnadete Opernsängerin, erobert das Herz eines brasilianischen Reeders, Henrique Lage, und zieht nach Brasilien. Nach und nach folgt die ganze Familie, und 1948 schließlich besteigt auch Marina auf dem halbzerstörten Römer Flughafen die Constellation, die sie nach Brasilien bringen wird. Ihre Kindheit in Europa und der Krieg sind zu Ende, ein neues Leben beginnt. In Rio de Janeiro wird Marina Colasanti Malerei an der Escola de Belas Artes studieren, eine Karriere als Journalistin und Schriftstellerin beginnen und den Mini-conto erfinden, eine Arzt Kürzestgeschichte. Sie gilt als eine der bekanntesten Essayistinnen und Frauenrechtlerinnen Brasiliens und arbeitete jahrelang für diverse Zeitungen, darunter das Jornal do Brasil, Fernsehstationen und eine Werbeagentur (4). Minha Guerra Alheia – »Mein fremder Krieg«, Marina Colasantis jüngstes Buch, stellt eine Art Vergangenheitsbewältigung dar und liest sich wie ein Roman. Zwei Perspektiven beherrschen die Szene: das junge, scheue Mädchen Marina, das den Krieg erlebt, sich nach dem Frieden sehnt und die Brasilianerin, die sechzig Jahre später eine große Italienreise unternimmt, um ihrem Ehemann und ihren Kindern die alte Heimat zu zeigen und dabei festzustellen, was von ihrem Italien noch übrig geblieben ist. Es ist die Geschichte einer Kindheit im Zweiten Weltkrieg und einer Emigration, bei der alle verlieren. Marina Colasanti verliert ihre Heimat, ihre Sprache und erobert sich dann in Brasilien eine neue Sprache und eine neue Heimat. Das Buch ist eine faszinierende Spurensuche einer Emigrantin auf dem Alten Kontinent und verdient es, zum Brasilien-Jahr der Frankfurter Buchmesse 2013 ins Deutsche übersetzt zu werden. *** 1 Colasanti, Marina. »Em algum lugar perto do deserto« in: Os últimos lírios no estojo de seda. Belo Horizonte: Editora Leitura, 2006, SS. 54-55. 2 Colasanti, Marina. Minha guerra alheia: memórias. Rio de Janeiro: Record, 2010, S. 232. 3 Koehler, Adriano. »Na guerra todos perdem« in: Rascunho http://rascunho.com.br/ (28.2.2011) 4 Quinlan, Susan Canty. »Marina Colasanti« in: Brazilian Writers. ed. Monica Rector and Fred M. Clark. Detroit (MI): Gale, 2005, SS. 136-140. (Dictionary of Literary Biography; 307).
Veja um capítulo do livro sob: http://www.revistapessoa.com/artigo.php?id=45 **** Albert von Brunn ist Literaturwissenschaftler
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