angola . brasil . cabo verde . guiné-bissau . moçambique . portugal . são tomé e príncipe . timor lorosae Die Nacht des Wartens, von Milton Hatoum



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Milton Hatoum:
A noite da espera
Companhia das Letras, 2018

Leseprobe (PDF) auf der Website des Verlags Companhia das Letras


Vom Land der Zukunft 
zum Leviathan aus Beton

A noite da espera, von Milton Hatoum

Rezensiert von Albert von Brunn

»Brasília ist eine Stadt für Menschen mit Flügeln oder die fliegen können. Die Anlage ist so großartig, dass die Gebäude des Eixo Monumental klein wirken, voll mit rötlichem Staub«, schreibt Martin, Hauptperson in Milton Hatoums neuestem Roman, A noite da espera (1) an seine Mutter. »Die Boulevards und Prachtstraßen haben Kürzel mit Buchstaben und Zahlen. Beim ersten Spaziergang habe ich mich sogleich in den Blocks der Asa Sul verirrt, ich hatte das Gefühl, immer am gleichen Ort zu sein und dieselben Gebäude vor mir zu haben. Gut sehen sie aus, umgeben von Rasenplätzen. Diese sich stets wiederholende Schönheit verwirrt mich. Alles verwirrt mich, Brasília erinnert an keinen anderen Ort. Der Himmel hängt tief, die Menschen scheinen aus der Stadt verschwunden zu sein«.

Die Erzählung folgt Martin, einem jungen Mann aus São Paulo, dessen Eltern sich trennen, als er sechzehn Jahre alt wird, was ein tiefes Trauma hinterlässt. Er folgt seinem Vater in die Hauptstadt und studiert an der neugegründeten Universidade de Brasília, wo sich Studenten verschiedenster sozialer Herkunft mischen. Er schließt sich einer Gruppe an, zu dem der Sohn eines Botschafters ebenso gehört wie ein Junge aus den Armenvierteln an der Peripherie. Die Gruppe will eine Zeitschrift herausgeben, genannt A Tribo, doch das Unternehmen scheitert an den widrigen Umständen, denn es ist die Zeit der Militärdiktatur in ihrer repressivsten Phase nach dem Ermächtigungsgesetz (AI-5) von 1968. Zehn Jahre später, aus dem Pariser Exil, sinniert Martin über die verpassten Chancen seiner Generation, der es nicht vergönnt war, künstlerische und intellektuelle Talente zu entfalten und die stattdessen in die Emigration gedrängt wurde.

»Die Reise nach Brasília über die zentrale Hochebene ist eine einzige große Trennung. Der Reisende wird konfrontiert mit dem Gegensatz zwischen dem modernen Brasilien der Leere und dem traditionellen Brasilien an der Küste mit seinen Märkten und Alltagsgesprächen, auf halbem Weg zwischen der Unterentwicklung und der unvollendeten Moderne«, schreibt der amerikanische Soziologe James Holston in seinem Buch über Brasília (2). Die Idee, die Hauptstadt von der Küste ins Landesinnere zu verlegen, geht auf das 18. Jahrhundert zurück, wurde in der republikanischen Verfassung von 1891 festgeschrieben, jedoch erst im 20. Jahrhundert realisiert. Zu den Visionären dieses neuen Zentrums gehört Johannes Bosco, der Begründer des Salesianer Ordens: in einem Traum erschien ihm am 30. August 1883 ein Himmelsbote, der ihn auf einer Bahnreise von den Anden nach Rio de Janeiro begleitete. Als sie das zentrale Hochland überquerten, bedeutete ihm sein Begleiter, diese Gegend sei das Gelobte Land, auf dem eine Stadt entstehen werde. Doch erst 75 Jahre später wurde der Bau von Brasília unter Präsident Juscelino Kubitschek (1902-1998) in Angriff genommen und mit einer Messe am 3. Mai 1957 offiziell eingeweiht, als noch kein einziges Gebäude fertig war. Diese unvollendete Utopie der Moderne wurde durch den Militärputsch von 1. April 1964 jäh unterbrochen und verwandelte sich in ein Gefängnis aus Beton und Glas (3).

Milton Hatoum wurde am 19. August 1952 als Sohn libanesischer Einwanderer in Manaus geboren. Einen Teil seiner Schulzeit (1968-1970) verbrachte er in Brasília, im Centro Integrado de Ensino Médiound wechselte dann nach São Paulo, wo er Architektur und spanisch-amerikanische Literatur studierte, bevor er 1980-1983 ins europäische Exil ging, zunächst nach Madrid und Barcelona, später nach Paris. 1983 kehrte er in seine Heimatstadt zurück, um Französisch zu unterrichten. Seine ersten vier Romane spielen alle in seiner Heimatstadt. Mit A noite da espera (Die Nacht des Wartens) beginnt eine Trilogie des Exils. Es bleibt zu hoffen, dass dieser neue Roman bald auch in deutscher Übersetzung erscheinen wird.


Albert von Brunn (Zürich, Februar 2018)

 

(1) Hatoum, Milton. A noite da espera. São Paulo: Companhia das Letras, 2017. S. 18.

(2) Holston, James. A cidade modernista: uma crítica de Brasília e sua utopia. Trad. Marcelo Coelho. São Paulo: Companhia das Letras, 1993, SS. 11, 23-24,201.

(3) Oliveira, André de. “Milton Hatoum: ‘O Brasil vive um eterno romance de desilusão” in: El País (20.10.17)