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Jonas zwischen den Welten

Deserto von Luis Krausz

»Als endlich der große Tag meines Abreise nach London gekommen war, weckte mich mein Urgroßonkel früher als gewöhnlich«, erinnert sich der anonyme Erzähler in Luis Krausz’ zweitem Roman, Deserto1 »Es begann bei der Abfertigung im heißen Flughafengebäude von Lod, dem Flughafen Tel Avivs mit seinen fliegenbesetzten Glasscheiben, wo die Schalter der ausländischen Fluggesellschaften mit ihren elegant gekleideten und eindrucksvoll auftretenden Funktionären den Glanz der diplomatischen Vertretung einer Großmacht in einer ihrer fernen Kolonien ausstrahlten […]. Jenseits der Glasscheiben stand das Flugzeug mit seinen silbernen Schwingen schon lange bereit, daneben die faltbare Metalltreppe mit der Aufschrift British Airways«.

Der Roman Deserto spielt in den Siebziger Jahren, während der brasilianischen Militärdiktatur. Der Ich-Erzähler ist dazu auserwählt, sechs Wochen im fernen Israel zu verbringen, wo er bei der Orangen- und Grapefruit-Ernte helfen und dabei entfernte Verwandte besuchen soll, die der Holocaust über drei Kontinente verstreut hat. Er schläft auf unbequemen Sofas in imposanten Privatbibliotheken, setzt sich zu Tisch mit Unbekannten, die ihn an seine Großmutter erinnern, hört klassische Musik und liest dabei Kafkas Verwandlung in französischer Sprache, da er seinen Deutschkenntnissen nicht so ganz traut. Er reist mit einer zionistischen Jugendgruppe nach Israel, die den Alitalia-Flug von São Paulo über Rom nach Tel Aviv finanziert hat, denn die von der galoppierenden Inflation geplagte Familie könnte ihren Sprössling nicht aus eigenen Mitteln nach Europa schicken. Nach dem Ernteeinsatz in Kfar Silver in der Nähe von Ashkelon genießt die Gruppe vor dem Rückflug nach São Paulo einige Tage Ferien in Israel. Es ist ihnen jedoch streng verboten, nach Europa zu reisen, »eine Erde voll bürgerlicher Verlockungen, die einem vertrauensseligen jungen Juden allzu leicht vom rechten Weg des Zionismus abbringen könnte«2. Der Ich-Erzähler schert sich jedoch nicht um das Verbot und besteigt das Flugzeug der British Airways nach London.

»Das Brasilien, in dem ich 1961 geboren wurde, war während meiner Kinder- und Jugendzeit ein problematisches Land, wo Korruption, Misswirtschaft und planloses Wachstum herrschten. Abgesehen von Alltagsproblemen wie Umweltverschmutzung, galoppierender Inflation und Mangelwirtschaft lebten wir in einer Militärdiktatur. Zeitungen und Zeitschriften, Bücher und Filme waren der Zensur unterworfen. Menschen verschwanden in den Folterkellern der Sicherheitsorgane. So blickten wir voller Neid und Frustration auf die Freiheiten in Europa. Häufig empfand ich es als Strafe, in Brasilien geboren worden zu sein und fragte mich, wie mein Leben wohl aussehen würde, wäre ich drüben geboren und würde anderswo leben«3.

Der Ich-Erzähler ist ein solcher Teenager, aufgewachsen unter der Bleikappe der Diktatur, abgeschottet von der Welt, die er entdecken will. Ganz besonders fasziniert ihn der Gedanke, Europa und speziell England kennen zu lernen, wo er Verwandte hat, die ihn aufnehmen. Dabei reist er durch eine vom Holocaust geprägte Welt, die seine Familie auseinandergerissen und in alle Welt versprengt hat, zusammengehalten nur von der Großmutter in São Paulo, wo Briefe aus USA, Israel und England eintreffen. In dem Moment, da er das Flugzeug in São Paulo besteigt, wandelt er auf den Spuren seiner Elterngeneration, wird verschluckt und an einem fremden Gestade wieder ausgespuckt, vergleichbar mit dem Propheten Jonas, mit einem Unterschied: Das Flugzeug ersetzt den Walfisch.

Die Jonas-Thematik, im 20. Jahrhundert von christlichen wie jüdischen Theologen aufgegriffen, wurde in den Dreißiger Jahren zu einem wirksamen Instrument im Kampf gegen die Rassentheorien der Nationalsozialisten: Jonas, erst völlig gleichgültig gegenüber anderen Völkern, engagiert sich für seine Mitmenschen. 1933 publizierte der dänische Schriftsteller Harald Tandrup sein Buch Profeten Jonas privat, in dem er Jonas als einen armen jüdischen Jungen schilderte, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Als Gott ihm befiehlt, gegen Ninive zu predigen, packt ihn die Angst, und er versucht zu fliehen. Der Aufenthalt im Bauch des Walfischs macht ihm klar, dass Gott keinen Widerspruch duldet, und so zieht er nach Ninive, wo seine Predigten ein Pogrom auslösen4.

Der Ich-Erzähler im Roman von Luis Krausz ist solch ein privater Jonas, doch in seiner Welt hat die Judenvernichtung bereits stattgefunden, und er geht auf die Suche nach den Überresten seiner Familie und jenem deutsch-jüdischen Ideal der Bildung, das seine Großmutter stets mit Europa gleichgesetzt hat. Dabei gerät er jedoch in Konflikt mit der zionistischen Organisation, auf deren Kosten er nach Israel gereist ist: »In den Augen des Senhor Boris Schneider hatte ich ganz offensichtlich Verrat an der nationalen Sache verübt und das heilige Blut missachtet, das ganze Generationen von Pionieren bei der Errichtung de Staates Israel vergossen hatten«5. Luis Krausz schildert die Organização Sionista Unificada als eine Institution im Belagerungszustand: »Die Gespräche fanden im Hochparterre eines finsteren Gebäudes in der Rua Correia de Melo im Herzen des Bom Retiro-Viertels in einem furchteinflößenden Büro statt, dessen einziger Zugang durch eine Stahltür mit gepanzertem Guckloch führte – in den 70er Jahren eine erschreckende Szenerie, die mich an einen Kerker erinnerte, dem ich vielleicht nie mehr würde entrinnen können«6.

Die zionistische Bewegung in Brasilien geht zurück auf den Ersten Weltkrieg, als Jacob Schneider (1887-1975) in Rio de Janeiro die Tiferet Sion begründete. 1922 folgte die Federação Sionista do Brasil, ein Jahr später Das Iídiche Vochenblat. Die Diktatur des Estado Novo (1937-1945) bedeutete einen Rückschlag, da das Regime von Getúlio Vargas alle politischen Aktivitäten von Ausländern untersagte und alle jiddischen Publikationen verbot. Nach 1945, als die ganze Katastrophe des Holocaust ins öffentliche Bewusstsein drang, setzten die brasilianischen Juden alle Hebel in Bewegung, um Israel zu unterstützen, Jugendbewegungen entstanden, die beim Aufbau der Kibutzim, der jüdischen Kolonien in Palästina, helfen wollten. Schließlich gelang es, den damaligen Außenminister Brasiliens, Oswaldo Aranha (1894-1960), gleichzeitig Präsident der Vollversammlung der Vereinten Nationen, vom UN-Teilungsplan für Palästina zu überzeugen, der am 29. November 1947 angenommen wurde und zur Entstehung des Staates Israels führte7. Doch diese heroische Phase des brasilianischen Zionismus ist zum Zeitpunkt des Romans längst vorbei, und die Vertreter der Organização Sionista Unificada legen eine doktrinäre Sturheit an den Tag, die den Erzähler beinahe ins Verderben stürzt: vom Rückflug nach São Paulo ausgeschlossen, strandet er bei seinem Urgroßonkel in Tel Aviv, wie seine Vorfahren 1940 am Strand von Lissabon, dem Hafen der Hoffnung: »Ich sah mich schon als einen dieser verzweifelten Emigranten, die vor drei, vier Jahrzehnten von einer diplomatischen Vertretung zur nächsten und von Reederei zu Reederei geirrt waren, auf der Suche nach Reisseeerlaubnissen und billigen Fahrkarten, wie wir in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem gesehen hatten«8. Doch es gibt Rettung für den gestrandeten Jonas– seine Großmutter. In São Paulo setzt sie Himmel und Hölle in Bewegung, um ihren Enkel zurückzuholen – mit Erfolg.

»Mein Buch Deserto ist eine Mischung aus Dichtung und Wahrheit«, erklärt Luis Krausz in einem Interview9. »Ich glaube, dieses Buch zeigt die Ambivalenz meiner Identität (brasilianisch-deutsch-jüdisch) und die Konflikte, die sich daraus ergeben und wie ich zwischen diesen Welten existiere, ohne mich ganz mit einem dieser Elemente identifizieren zu können. Es bleibt immer etwas übrig – ein Paradox. In Israel fühlte ich mich sehr deutsch, aber auch sehr brasilianisch, in Deutschland als jüdischer Brasilianer usw. Darum geht es in diesem Roman – ein Dasein zwischen drei Kontinenten, was mit der Vertreibung zu tun hat und wohl auch mit der sehr jüdischen Fixierung auf die Vergangenheit und der jüdischen Nostalgie, denn ich glaube, die jüdische Kultur hat sich um diesen Begriff der Rückkehr kristallisiert. Es bleibt immer die Hoffnung, nach Jerusalem zurückzukehren«.

Luis Krausz (*1961), Hochschullehrer und Schriftsteller, entstammt einer Familie Wiener Juden, die 1925 Österreich verließen und nach Brasilien emigrierten. Sein Werdegang ist kosmopolitischer Natur, studierte er doch Klassische Philologie und Hebräisch an der Columbia University, der University of Pennsylvania und an der Universität Zürich. 2013 erschienen sein Roman Desterro (Verbannung) in deutscher Übersetzung und gleichzeitig seine Abhandlung zur jüdisch-deutschen Literatur zwischen Ghetto und Metropole: Passagens. Deserto – Zwischen den Welten folgt zur Frankfurter Buchmesse beim Verlag Sonderzahl in Wien. 

Albert von Brunn (Zürich), 10.10.2017


1  Krausz, Luis. Deserto. Zwischen den Welten. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Manfred von Conta. Wien: Sonderzahl, 2017, S. 33-35.

2  Ibidem, S. 6.

3  Brief an den Autor vom 5.1.2016.

4  Liptzin, Sol. „The Literary Impact of Jonah “in: Biblical Themes in World Literature. Hoboken, NJ: KTAV, 1985, SS. 236-249.

5  Krausz, Luis. Deserto. Zwischen den Welten. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Manfred von Conta. Wien: Sonderzahl, 2017, S. 79.

6  Ibidem, S. 6.

7  Falbel, Nahman. „O sionismo no Brasil“ in: Judeus no Brasil: estudos e notas. São Paulo: Humanitas, 2008, SS. 414-420.

8  Krausz, Luis. Deserto. Zwischen den Welten. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Manfred von Conta. Wien: Sonderzahl, 2017, S. 81.

9  Krausz, Luis . „Europäische Kultur als Fetisch“ in: www.novacultura.de (14.5.2016)


 

 

 

Luis Krausz:
Deserto – Zwischen den Welten.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Manfred von Conta.
Wien: Sonderzahl, 2017. 124 S. 


Auf Portugiesisch: 
Deserto.
49 páginas
Ed. Benvirá, 2013


Auf Deutsch ebenfalls lieferbar:

Verbannung. Erinnerungen in Trümmern.
(Desterro). Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Manfred von Conta.
160 Seiten, Hentrich & Hentrich 2013


Luis Krausz, Jahrgang 1961 lehrt hebräische und jüdische Literatur an der Universität São Paulo. Er arbeitet zudem als Übersetzer aus dem Deutschen und wurde dafür mehrfach mit dem Prêmio Jabuti ausgezeichnet. 2011 schrieb er seinen ersten Roman Desterro (2011; dt.: Verbannung). Deserto folgte im Jahr 2013; sein dritter Roman Bazar Paraná (2015) war zweitplatzierter des Prêmio Jabuti 2016. 2017 veröffentlichte er die Romane Outro lugar und O livro da imitação e do esquecimento.


Albert von Brunn schreibt regelmäßig auf novacultura.de
Zuletzt rezensierte er Ronaldo Wrobel. O romance inacabado de Sofia Stern.