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Ein Blick auf das Glück?

über Luiz Ruffato: Teilansicht der Nacht (Vista Parcial da Noite)

Hatten wir einen Blick auf das Glück werfen können?

Dieser vorläufige Schlusssatz aus dem zentralen Kapitel »Der Angriff« liest sich aus heutiger Sicht wie ein Stoßseufzer nach dem Ende der Regierungszeit Lula/Dilma – Jahrzehnte nachdem die Familie des kindlichen Erzählers im Sommer 1972 vom Flussufer nach Paraíso gezogen war, um, wie es heißt, »dem Glück einmal kräftig die Hand zu geben«. 

Doch Teilansicht der Nacht, dritter und mittlerer Teil der Pentalogie Vorläufige Hölle, rankt sich um die Zeit der brasilianischen Militärdiktatur, die in Cataguases, abseits der urbanen, politischen Zentren, zugleich auch als Zeit eines Fortschrittsversprechens daherkommt. Gewalt, Amtsmissbrauch, all die brutalen Merkmale einer Diktatur treten in den Hintergrund, da sie schon immer da waren, ganz unabhängig vom Militärputsch am 1. April 1964, mit dem Brasilien für Jahrzehnte unter das Diktat von »Gott, Vaterland und Familie« gepresst wurde.

Am staubigen Alltag der Menschen im Hinterland hat all dies wenig verändert, wohl aber die Illusion eines künstlichen Wirtschaftswunders, die Verlockungen des Konsums, die trügerische Aussicht, es durch harte Arbeit »irgendwann«  doch einmal zu etwas zu bringen … 

Als von Barbacena her dunkle Wolken die Menschen am Flussufer in Angst und Schrecken versetzen, verluden wir unsere Siebensachen auf dem International KB-6 von Zé Pinto. Unser Häuschen mit vier Zimmern in Paraíso war endlich fertig.

Es sind bescheidene Träume, der verwegenste davon der vom eigenen Häuschen, dem eigenen Platz auf der Welt: »Wo ich einen Nagel einschlage, zieht ihn keiner mehr raus«. Ankommen, aufbauen, Wurzeln schlagen. Auch in Cataguases sind Neubaugebiete ein städtebauliches Merkmal der Zeit. Schäbiger als in den Metropolen, doch auch hier soll es den Kindern einmal besser gehen. Koste es, was es wolle.

Wie fragil dieses Glück, dieses Wohlergehen, dieses Bleiben ist, lässt sich nachlesen, empfinden, in Episoden wie die von Vicente Cambota, der seinen Namen nach dem Heiligen von der Armenspeisung bekam und dessen Tod schon seit dem zweiten Band Feindliche Welt fest steht: Wie er zur Welt kam, prekär aufwuchs, abhaute, die Mutter verlor, unterstützt, ausgenutzt wurde als billige Arbeitskraft und schließlich im Suff in einem Abwasserrohr buchstäblich verschwand.

Episch zelebriert wird das kleine Glück in all seinen Facetten und Schattenseiten, wenn die Näherin in Heimarbeit von der unartigen Tochter noch einmal zur Karnevalskönigin gemacht wird, im Rucksack dabei stets das Elend einer verkorksten Beziehung, der lieblosen Ehe, eines elenden Lebens, in dem es regnet und regnet und regnet.

Wenn einer Arbeit findet, richtige Arbeit, als Fahrer eines Lieferwagens nicht nur groß raus, sondern fast schon in der Welt herum kommt, zieht man beim Lesen den Kopf ein und hofft, dass es diesmal nur gut gehen möge. Hoffen und Bangen, das Gefühl, das sich von den Protagonisten allmählich auf den Leser überträgt. Der Funken Hoffnung, das ständige Bangen. Das Leben ist so, wie Ruffato es schreibt.


Hatten wir einen Blick auf das Glück werfen können?


Kinder, die Mangos im Garten klauen, vermischen sich mit Erinnerungen eines Kriegsveteranen, ein fantasierter Luftangriff aus dem Radio ist Albtraum, doch auch eine Metapher für das Gewaltige, was kommen soll, aber nie kommt. Stattdessen das unbedeutende Elend, die kleine Hoffnung, das bescheidene, brüchige Glück. Am Ende Verzeihen, eine Mutter bewundert klammheimlich die Tochter, die es in Jeans und rotzfrech rausgeschafft hat aus der Enge. So sieht das Popkulturzeitalter in Cataguases aus. Alles andere bleibt.

Luiz Ruffatos Romanzyklus »Vorläufige Hölle« endet mit dem noch zu übersetzenden Band Sonntag ohne Gott in der Zeit, in der gegen Anfang des neuen Jahrhunderts einmal für wenige Jahre eine Arbeiterpartei in Brasilien die Regierungsgeschäfte übernahm, sich ein Jahrzehnt lang bemühte, die Ärmsten nicht mehr ganz so arm sein zu lassen und schließlich scheiterte: Hatten wir einen Blick auf das Glück werfen können?

Dass die Übersetzung dieser Teilansicht der Nacht gerade im Jahr nach dem Putsch in Brasilien erscheint, ist ein Zufall. Historisch gesehen, wirkt das Buch aber nun auch wie eine Allegorie. Caburé, der geprügelt am Flussufer sitzt, weil es ihm nicht gelingen will, ein guter Mensch zu werden – und was ein guter Mensch ist, bestimmt der prügelnde Vater; oder Vicente Cambota, der in einem Kellerloch zur Welt kam und in einem Abwasserrohr wieder verschwindet, stehen auch für ein Leben, die Welt, in der nichts voran geht.

Als das Jahrtausend zu Ende ging, klingelte um elf Uhr nachts das Telefon, ihr Herz polterte los, Da ist was passiert, lieber Gott, und am anderen Ende die Stimme von Donnerschlägen erstickt, Frohes Neues Jahr! Frohes Neues Jahr!, Aber Tochter, es ist doch noch gar nicht Mitternacht, Hier schon, Mutter, hier schon, Wo steckst du, um Himmels Willen?, New York!, Mutter, New York! Irgendwann nehme ich dich auch einmal mit ans Meer … Irgendwann nehme ich dich auch einmal im Flugzeug mit … Irgendwann musst du dir meine Wohnung in Brasília anschauen … Versprechungen … Die Arme … die sie womöglich nie würde einhalten können …

mk, 08.12.2017

 

Luiz Ruffato:
Teilansicht der Nacht.
Vista Parcial da Noite, aus dem brasilianischen Portugiesisch von Michael Kegler.
144 Seiten
Assoziation A, Hamburg/Berlin 2017. 


Leseprobe >>

Lesung aus Teilanischt der Nacht
mit Shenja Lacher auf Bayern2
(14.05.2017)


Außerdem lieferbar aus der Reihe »Vorläufige Hölle« von Luiz Ruffato: 

Mama, es geht mir gut.

160 Seiten, Assoziation A 2013

Feindliche Welt.
192 Seiten, Assoziation A 2014

sowie:

Es waren viele Pferde
Taschenbuchausgabe, 160 Seiten, Assoziation A 2012/2016

Ich war in Lissabon und dachte dich.
100 Seiten, Assoziation A 2015