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17.08.2010 Streitbarer Humanist Grass hat vor einigen Tagen verkünden lassen, dass er nicht elektronisch veröffentlicht zu werden wünscht. Vor ein paar Jahren hat er sich dagegen verwahrt, in reformierter Rechtschreibung zu erschienen. Die Frage, ob er einen Blog betreibt, erübrigt sich, da er diesen vermutlich demonstrativ mit ck schreiben würde, falls er denn mit seinem Füllfederhalter ins Internet käme … Es gibt andere alte Schriftsteller, die sich mit gleicher Vehemenz demonstrativ der Zukunft zu-wenden und den Anschluss an die Gegenwart halten, Einfluss zu nehmen versuchen und sich Gehör verschaffen. José Saramago, damals bereits 85 Jahre alt, begann 2008 seine Notizbücher ins Internet zu verlegen, wohl wissend um das öffentliche Interesse an seinen Ansichten, und bloggte praktisch bis zu seinem Tode im Jui 2010. Bis zuletzt lösten seine Einträge Kontroversen und Debatten aus. Saramago wurde schon lange nicht mehr nur als Buchautor gelesen, sondern als öffentliche moralische Institution. Ende 2009 erschien sein Blog, analog zu den in den neunziger Jahren publizierten Cadernos de Lanzarote, auch in Buchform. Als Rowohlt sich wegen einiger umstrittener Israel-kritischer Passagen weigerte, die deutsche Übersetzung des Caderno ungekürzt zu veröffentlichen, wechselte er noch kurz vor seinem Tode den Verlag. Nun sind Saramagos Notizen vom Sepmber 2008 bis März 2009 bei Hoffmann und Campe erschienen (wo kürzlich auch sein vorletzter Roman, Die Reise des Elefanten, veröffentlicht wurde), und als jemand, der ebenfalls lieber auf Papier liest als im Internet, bin ich sehr dankbar dafür. Wie in einem Blog üblich, geht es in chronologischer Reihenfolge um Brot, Bush, Berlusconi, Utopien, Gott, Ratzinger oder Gonçalo M. Tavares – alles Mögliche eben, aber alles in jener Eloquenz, die man von Saramago kennt und an ihm bewundert (und die dank der hervorragenden Arbeit von Marianne Gareis und Karin von Schweder-Schreiner ihre Strahlkraft auch im Deutschen entwickelt). Eine inhaltliche Kritik verbietet sich fast. Man wird dieses Buch nicht von vorne bis hinten durchlesen, sondern darin blättern, innehalten, verweilen und nachdenken. Es muss auch niemand mit allem einverstanden sein, was der alte Querkopf im Laufe seines Lebens gesagt und gemeint hat. Doch der radikale Humanismus als Grundlinie seines Schreibens und Wirkens ist neben der literarischen Qualität ein Kriterium an sich. Und es ist eine Freude zu lesen, wie Saramago sich stets treu bleibt, als Kämpfer, der den Wert des Menschen radikal in den Vordergrund stellt. Keine Spur dagegen von Altersstarrsinn, Rechthaberei oder sonstigen Ermüdungserscheinungen. Hellwach ist Saramago in all diesen Zeilen, kompromisslos kritisch mit der Gegenwart, und der Zukunft zugewandt. Nun da er tot ist und man sich fast staunend gewahr wurde, dass er ja fast schon 88 Jahre alt war, wünscht man sich, man selbst möge so lange und so luzide, kritisch und bodenverhaftet durchhalten können. Ein Glück, das nicht jedem vergönnt ist. Michael Kegler José Saramago
Originalausgabe: O Caderno O Caderno II Bitte teilen Sie uns und allen Besuchern von nova cultura! Ihre Meinung zu diesem Artikel mit.
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